22.05.2024 11:21:10 - dpa-AFX: HINTERGRUND/Nach Getir-Rückzug: Wie es um die Lebensmittel-Lieferanten steht

BERLIN (dpa-AFX) - Klingeling, Achtung, aufgepasst! Mit dicken Packtaschen
und einer großen Box auf dem Gepäckträger saust mal wieder ein sogenannter Rider
auf seinem Elektrorad an einem vorbei. Er hat es eilig. Irgendwo wartet ein
Kunde auf seine Bestellung: möglicherweise eine vergessene Packung Eier oder
gleich der komplette Wocheneinkauf. Die Fahrerinnen und Fahrer der Lebensmittel-
und Restaurant-Lieferdienste prägen seit Jahren vor allem in Städten das
Straßenbild. In pinker, blauer oder orangener Arbeitskleidung sind sie gut
sichtbar unterwegs. Während der Corona-Krise erlebten die Anbieter einen Boom -
inzwischen hat sich der Markt abgekühlt.

Das gilt vor allem für das sogenannte Quick-Commerce-Geschäft, also für das
Liefern von Supermarktprodukten innerhalb weniger Minuten. Erst vor wenigen
Tagen hat etwa das türkische Unternehmen Getir seine deutschen Standorte
aufgegeben. Der Lieferdienst will sich künftig ausschließlich auf den
Heimatmarkt in der Türkei konzentrieren. Eigenen Angaben zufolge machte das
Unternehmen außerhalb der Türkei nur sieben Prozent des Umsatzes. Getir hatte
zeitweise auch mit der Just-Eat-Takeaway-Tochter Lieferando
kooperiert.

Abschied nicht nur vom deutschen Markt

Getir hatte Ende 2022 den angeschlagenen Berliner Konkurrenten Gorillas
übernommen. Gemeinsam mit dem Wettbewerber Flink galt Gorillas in Deutschland
als Quick-Commerce-Pionier. Mit aggressiven Marketing-Kampagnen und einem
rasanten Lieferzeitversprechen waren beide Unternehmen im Jahr 2020 angetreten
und hatten vor allem in der Corona-Krise einen Höhenflug erlebt. Oktober 2021
war dann der Berliner MDax-Konzern Delivery Hero
als Minderheitsaktionär bei Gorillas eingestiegen.

Nur zwei Monate später meldete Delivery Hero bereits das Aus für seine Marke Foodpanda in Deutschland, unter der er neben Restaurantbestellungen auch Dinge
des alltäglichen Gebrauchs auslieferte. Gorillas kämpfte unterdessen mit
wirtschaftlichen Problemen und mit Kritik an den Arbeitsbedingungen seiner
Fahrerinnen und Fahrer. Im Mai 2022 entließ das Unternehmen zunächst Hunderte
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und wurde schließlich vom Konkurrenten Getir
geschluckt. Doch auch der türkische Wettbewerber kam bald darauf ins Straucheln.
Nun ist Schluss in Deutschland, in Großbritannien, den USA und den Niederlanden.

"Verwunderlich war, dass der Markt doppelt bespielt wurde und Synergien
nicht genutzt wurden", sagt Eva Stüber, Lebensmittelmarkt-Expertin beim Institut
für Handelsforschung in Köln (IFH Köln). "Getir hat sich zwar von Standorten
zurückgezogen, aber konsequent wäre es gewesen, die Märkte zwischen Getir und
Gorillas aufzuteilen." Für beide Marken habe das Unternehmen jeweils eine eigene
aufwendige Lagerinfrastruktur an den gleichen Standorten betrieben, anstatt die
Lager zusammenzulegen.

Mit dem Rückzug von Getir ist das Berliner Start-up Flink, an dem auch die
Supermarktkette Rewe beteiligt ist, nahezu der einzige reine
Quick-Commerce-Anbieter in Deutschland. Zu nennen wäre noch der
Getränke-Lieferant Flaschenpost aus Münster, der sein Sortiment derzeit immer
weiter ausbaut.

Auf die Absätze von Flink dürfte sich die Aufgabe des einstigen Konkurrenten zunächst positiv auswirken. "Wir konnten zuletzt zusätzliches Wachstum in den
Städten beobachten, aus denen sich Gorillas und Getir zurückgezogen haben und
sind optimistisch, weitere Teile der Kundschaft für Flink gewinnen zu können",
teilt das Unternehmen auf Anfrage mit. Das Unternehmen prüfe derzeit eine
Übernahme von Räumlichkeiten des einstigen Konkurrenten Gorillas.

Experte: Preise bei Flink dürften anziehen

Aber Flink werde die Chance nutzen müssen, "um das Geschäftsmodell sehr
schnell und sehr deutlich in Richtung Profitabilität zu entwickeln", sagt
Christoph Krauss von der Unternehmensberatung Roll & Pastuch. "Dies wird
verschiedene Maßnahmen beinhalten, die auf die Themen Größe des Warenkorbs,
Effizienz der Lieferung sowie Durchsetzen höherer Preise einzahlen." Kundinnen
und Kunden müssen demnach mit Preissteigerungen rechnen.

Trotz der Turbulenzen in der Branche halten Fachleute den Markt für
Lebensmittellieferungen für längst nicht ausgeschöpft. Dem Handelsverband
Deutschland zufolge (HDE) wurde im vergangenen Jahr lediglich knapp drei Prozent
des gesamten Lebensmittelumsatzes online erzielt. Es gebe also viel Potenzial
nach oben, teilte der Verband vor wenigen Tagen mit. Das Segment ist demnach
zwischen 2020 und 2023 um knapp 16 Prozent gewachsen und damit so stark wie kein
anderer Online-Bereich.

Stärker engagieren könnten sich vor allem etablierte Supermarktketten.
Insbesondere Edeka und Rewe sind schon länger im Bereich
Lebensmittel-Lieferungen tätig. Rewe betreibt neben der Beteiligung an Flink ein
eigenes Online-Liefergeschäft mit längeren Lieferzeiten und baut eine speziell
darauf ausgerichtete Lagerinfrastruktur auf. Edeka wiederum ist beim
Lieferdienst Picnic beteiligt, der derzeit in großer Zahl neue Standorte
erschließt. Zudem sind laut Stüber vom IFH Köln einzelne Regionalgesellschaften
des Handelsriesen bei Lebensmittel-Lieferungen aktiv.

Die rasant schnellen Lieferzeiten der ersten Jahre sind bei diesen
Wettbewerbern allerdings nicht drin. Stüber geht davon aus, dass diese Methode
vor allem dazu diente, die Dienste bekannt zu machen. Inzwischen funktionierten
Angebote wie von Picnic auch ohne dieses Versprechen. Das Unternehmen fährt
anders als Flink feste Routen ab und beliefert die Kundinnen und Kunden entlang
dieses Wegs.

Am Ende ist der Online-Lebensmittelhandel also trotz des Getir-Rückzugs noch lange nicht. "Es werden mit Sicherheit neue Unternehmen auftauchen, neue
Start-ups entstehen", sagt Stüber. Zwar sei derzeit am Horizont kein neuer
Wettbewerber in Sicht. "Die Dynamik wird aber bleiben." In welchen Farben die
Fahrerinnen und Fahrer dann durch die Städte flitzen werden, bleibt
abzuwarten./maa/DP/zb/ngu


--- Von Matthias Arnold, dpa ---
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