24.05.2024 08:03:24 - dpa-AFX: POLITIK/Offenbarung Ost: die ungläubige Zukunft für ganz Deutschland?

ERFURT (dpa-AFX) - Beim Katholikentag im thüringischen Erfurt nächste Woche
können Christen einen Blick in die eigene Zukunft werfen - als schwindende
Minderheit in einer Gesellschaft fast ohne Konfession. In Ostdeutschland ist das
längst Realität. Vor Jahren schon ermittelte eine Studie der Universität Chicago
die Region als die ungläubigste der Welt. Die wenigsten sind Kirchenmitglied,
kaum ein Kind wird getauft, viele Glockentürme und geweihte Gemäuer bröckeln.
Die Kirche weiß das alles. Und will sich dennoch nicht entmutigen lassen. Der
Osten scheint so etwas wie ihr Zukunftslabor auf der Suche nach einer neuen
Rolle.

"Mich beeindruckt, wie unsere Glaubensgeschwister dort ihre
Diaspora-Situation leben und mit viel Zuversicht nach vorne schauen", sagt Georg
Bätzing, der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz. "Sie sind klein an
Zahl und stark darin, sich mit einem eigenen christlichen Profil in die
Gesellschaft einzubringen." Dies zeige, dass eine kleiner werdende Zahl von
Christen "nicht dazu führen muss, sich sektenhaft oder elitär abzukapseln",
meint Bätzing. Christen brächten sich mit ihren Wertmaßstäben ein und gäben so
auch Menschen außerhalb der Kirche Orientierung. "Darin zeigt sich für mich ein
attraktives Zukunftsbild für die Kirche insgesamt."

Von der Nichtnotwendigkeit von Religion

Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow kennt die Minderheitserfahrung -
sogar in mehreren Dimensionen. "Ein Wessi in einer Ostpartei, ein bekennender
Christ in einer Partei, die eher für eine Traditionslinie stand, die atheistisch
ist", sagt der Linken-Politiker selbst. "Auch da bin ich in der Minderheit und
ich bin trotzdem mit Freude bekennender Christ." Ramelow sieht den
Bedeutungsverlust der Kirchen, das Hadern mit Machtmissbrauch und sexuellen
Übergriffen. "Ja, es gibt eine große Austrittswelle in beiden Kirchen, aber es
scheint dennoch eine große Sehnsucht nach etwas Spirituellem zu geben."

Spiritualität ja, vielleicht, aber braucht man dazu die Kirche? Der
Kirchenhistoriker Jörg Seiler von der Katholisch-Theologischen Fakultät der
Universität Erfurt spricht von der "Nichtnotwendigkeit von Religion für
Gesellschaft", die auch im Westen das prägende Gefühl werde. "Die
Konfessionslosen sind hier im Osten mit Abstand die Mehrheit", sagt Seiler.

In Zahlen heißt das: Ende 2022 lebten nach Angaben der Deutschen
Bischofskonferenz in den ostdeutschen Bundesländern und Berlin rund 800 000 der
deutschlandweit knapp 20,9 Millionen Katholiken. Ihr Anteil an der Bevölkerung
im jeweiligen Bundesland reichte von 3,1 Prozent in Sachsen-Anhalt bis hin zu
7,5 Prozent in Berlin. Etwas höher sind die Zahlen der Evangelischen Kirche
(EKD) im Osten. Ende 2022 lebten etwa 2,3 Millionen der bundesweit rund 19,2
Millionen Kirchenmitglieder in Berlin, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern,
Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen. Mit 10,6 Prozent fiel ihr
Bevölkerungsanteil in Sachsen-Anhalt am geringsten und mit 18,7 Prozent in
Thüringen am höchsten aus. Das heißt aber immer noch: Mehr als acht von zehn
Menschen sind raus.

Zwei Diktaturen

Ursachen für diese Zahlen liegen auch in der Vergangenheit. Die beiden
antireligiösen Diktaturen der Nationalsozialisten und der SED hinterließen im
20. Jahrhundert ihre Spuren. "Die SED-Regierung hat versucht, die Kirche
zurückzudrängen, man konnte auch sehr einfach aus der Kirche austreten", erklärt
der Religions- und Kirchensoziologe Gert Pickel. So war der Kirchenkontakt
vieler Menschen in der DDR überschaubar. Die Enkel dieser Generationen haben
Pickel zufolge quasi keine Berührungspunkte mehr zu Religion.

Dazu kommen allgemeine Entwicklungen: Im Osten wie im Westen ziehen Menschen häufiger um als früher, sie hängen weniger an ihrer Kirchengemeinde.
"Sonntagsmorgens verbringt man die Zeit vielleicht lieber mit der Familie, geht
in den Zoo, ins Museum oder zum Sport statt in die Kirche", sagt Pickel. "Die
Bedeutung von Religion nimmt einfach ab", sagt Kirchenhistoriker Seiler.

Eine 2019 veröffentlichte Studie der Universität Freiburg prognostiziert,
dass die Zahl der Kirchenmitglieder deutschlandweit bis 2060 auf 22,7 Millionen
schrumpft, also etwas mehr als halb so viele wie 2022. Im Osten Deutschlands
werden die beiden großen christlichen Kirchen demnach dann nur noch 1,5
Millionen Mitglieder haben. Überleben könnten die Kirchen nach Seilers Erwartung
trotzdem. "Wenn wir weiter ein Kirchensteuermodell und mit Staatsleistungen
mitfinanzierte Kirchen haben, dann wird dieses Kirchensystem strukturell nicht
zusammenbrechen", meint der Professor.

"Eine solidarische, bessere Welt"

Eine Aufgabe für die Kirche sieht der Historiker nicht nur in der Seelsorge, sondern auch im gesellschaftlichen Zusammenhalt. Deshalb sollten sich die
Organisationen nicht weiter in innerkirchlichen Themen verfranzen. "Wenn Kirche
nicht mehr für die Menschen da ist, um eine solidarische, bessere Welt zu
schaffen, dann braucht man sie nicht mehr so öffentlich gefördert, wie wir sie
haben", sagt Seiler.

Die großen gesellschaftlichen Fragen sind es wohl auch, die viele zum
Katholikentag ziehen: 20 000 Menschen werden erwartet, darunter viele Promis -
vom Bundespräsidenten bis zum Kanzler. "Dass der Katholikentag in der Zeit des
Krieges Frieden in den Mittelpunkt stellt, greift die Sehnsucht und Hoffnung
vieler Menschen auf", sagt Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) auf
die Frage, warum er nach Erfurt fährt. Viele suchten eine Perspektive auf
Frieden. "Diesen Wunsch habe auch ich. Frieden bedeutet dabei Arbeit, Frieden
ist eine Aufgabe, die Diplomatie und Aussöhnung einschließt, aber Naivität
ausschließt."/vsr/DP/jha

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