23.06.2024 17:31:28 - dpa-AFX: ROUNDUP 3: Scholz mahnt bei Milei Sozialverträglichkeit von Reformen an

(neu: Scholz-Zitate)

BERLIN (dpa-AFX) - Ein selbst ernannter "Anarchokapitalist" im Kanzleramt:
Bei einem einstündigen Gespräch mit dem argentinischen Präsidenten Javier Milei
hat Bundeskanzler Olaf Scholz am Sonntag mahnende Worte an den exzentrischen
Radikalreformer gerichtet, der im Wahlkampf auch schon mal mit heulender
Kettensäge auftrat. Nach Angaben von Regierungssprecher Steffen Hebestreit
unterstrich Scholz, dass Sozialverträglichkeit und der Schutz des
gesellschaftlichen Zusammenhalts bei den harten Sparmaßnahmen des Präsidenten
ein wichtiger Maßstab sein sollten.

Der ultraliberale Milei hält allerdings nichts von sozialen
Sicherungssystemen und Umverteilung. Steuern sind in seinen Augen Raub und
Bemühungen um soziale Gerechtigkeit führten immer zu mehr Ungerechtigkeit, so
seine Überzeugung. "Der Staat ist nicht die Lösung, sondern das Problem", lautet
eines seiner Mantras.

Das Gespräch dauerte wie geplant nur 60 Minuten. Eine zunächst angekündigte
gemeinsame Pressekonferenz von Scholz und Milei war ebenso wie der Empfang mit
militärischen Ehren kurzfristig abgesagt worden - auf Wunsch des argentinischen
Präsidenten, wie es von deutscher Seite hieß. Der einzige gemeinsame öffentliche
Auftritt blieb damit ein kurzer Fototermin bei der Begrüßung mit Handschlag vor
dem Kanzleramt.

Scholz wies Kritik an dem Treffen mit Milei zurück. Der Kanzler sagte dem
ARD-Hauptstadtstudio vor dem Gespräch mit dem Gast, es sei seine Aufgabe, "mit
denen zu reden, die dort ihre Ämter haben". Weiter sagte Scholz: "Deutschland
und Argentinien haben sehr gute Beziehungen über viele Jahrzehnte lang.
Natürlich treffe ich mich mit dem dort demokratisch gewählten
Staatspräsidenten."

"Weg mit Milei": Proteste vor dem Kanzleramt

Vor der Regierungszentrale protestierten mehrere Dutzend Demonstranten mit
Plakaten wie "Weg mit Milei" und "Argentinien steht nicht zum Verkauf" gegen den
Besuch. Sie skandierten "Milei, Abschaum
- du bist die Diktatur."

Argentinien steckt in einer Rezession und leidet unter einem aufgeblähten
Staatsapparat, geringer Produktivität der Industrie und einer großen
Schattenwirtschaft, die dem Staat viele Steuereinnahmen entzieht. Der
ultraliberale Präsident will das einst reiche Land mit einem radikalen
Sparprogramm wieder auf Kurs bringen. Das hat allerdings seinen Preis: Die
harten Maßnahmen würgen die Wirtschaftsleistung ab. Der Internationale
Währungsfonds (IWF) rechnet mit einem Rückgang um 2,8 Prozent im laufenden Jahr.
Nach Angaben der Katholischen Universität Argentiniens leben knapp 56 Prozent
der Menschen in Argentinien unter der Armutsgrenze und rund 18 Prozent in
extremer Armut.

Zügiger Abschluss des EU-Mercosur-Abkommens gefordert

Scholz und Milei sprachen auch über die wirtschaftlichen Beziehungen beider
Länder. Beide machten sich laut Hebestreit für den zügigen Abschluss der seit 25
Jahren andauernden Gespräche über eine Freihandelszone zwischen der Europäischen
Union und dem südamerikanischen Staatenverbund Mercosur stark, dem neben
Argentinien auch Brasilien, Uruguay und Paraguay angehören. Mit dem Abkommen
würde eine der weltweit größten Freihandelszonen mit mehr als 700 Millionen
Einwohnern entstehen. Eine Grundsatzeinigung aus dem Jahr 2019 wird jedoch wegen
anhaltender Bedenken - etwa beim Regenwaldschutz - nicht umgesetzt.

Auf einer Linie waren Scholz und Milei auch mit Blick auf den russischen
Angriffskrieg gegen die Ukraine. Beide seien sich einig gewesen, "dass Russland
es in der Hand hat, den Angriffskrieg gegen die Ukraine zu beenden", erklärte
Hebestreit.

Exzentriker gibt sich zahm

Der Staatschef der zweitgrößten Volkswirtschaft Südamerikas, die zur
G20-Staatengruppe der wichtigsten Industrie- und Schwellenländer gehört, gilt
als Exzentriker und wird oft mit dem früheren US-Präsidenten Donald Trump
verglichen. Parlamentarier tituliert er gerne als "Ratten" und der Staat ist für
ihn die Wurzel allen Übels. Bei seinem zweitägigen Besuch in Deutschland gab er
sich allerdings eher zahm.

Er war bereits am Samstag in Deutschland eingetroffen und hatte in Hamburg
für seine marktradikalen Reformen die Medaille der liberalen Friedrich August
von Hayek-Gesellschaft erhalten - in Anwesenheit der AfD-Politikerin Beatrix von
Storch und des Vorsitzenden der rechtskonservativen Werteunion, Hans-Georg
Maaßen. "Sie bringen den Kapitalismus aus der Defensive", sagte der Vorsitzende
des Ökonomen-Verbandes, Stefan Kooths, in seiner Laudatio.

Milei verteidigte seine Reformen mit den Worten. "Es war immer klar, dass
das nicht ohne Härten über die Bühne gehen wird, aber das haben wir den Leuten
immer klar kommuniziert", sagte Milei bei seinem recht langatmigen Vortrag vor
der Hayek-Gesellschaft. "Wir haben gesagt, dass es kein Geld gibt, dass es hart
werden wird, dass der Anfang schwer werden wird, aber dass wir schließlich gute
Ergebnisse erzielen werden."

"Es lebe die Freiheit, verdammt noch mal"

Wer sich in Hamburg allerdings eine flammende Rede des Enfant terrible der
argentinischen Politik erhofft hatte, dürfte enttäuscht worden sein. Rund eine
Stunde referierte Milei über seine Begeisterung für die
wirtschaftswissenschaftliche Denkrichtung der Österreichischen Schule, seinen
Aufstieg vom TV-Experten über Hinterbänkler im Parlament bis hin zum Staatschef
und seine Zukunftsvision für Argentinien.

Der 53-Jährige changiert bei seinen öffentlichen Auftritten stets zwischen
den Extremen. Mal gibt er die exzentrische Rampensau, rennt über die Bühne,
brüllt und gestikuliert. Dann wieder hält er knochentrockene ökonomische
Fachvorträge. Zumindest am Ende seines Diskurses in Hamburg versöhnte er die
rund 200 geladen Gäste mit seiner typischen Abschiedsformel: "Es lebe die
Freiheit, verdammt noch mal."

Milei besucht Denkmal für die ermordeten Juden Europas

In Berlin besuchte er auch das Holocaustmahnmal. Auf einem vom Präsidialamt
veröffentlichten Foto war zu sehen, wie er andächtig über die grauen Stelen
neben dem Brandenburger Tor blickt. Der argentinische Präsident ist zwar
katholisch aufgewachsen, aber seit Jahren sehr am Judentum interessiert. Bei
einem Besuch in Israel betete er an der Klagemauer, er pilgerte zum Grab des
berühmten Rabbis Menachem Mendel Schneerson in New York und vertraut in
spirituellen Dingen auf den Rat eines jüdisch-orthodoxen Geistlichen. Milei gilt
als entschlossener Verbündeter Israels und unterstützt im Gaza-Krieg die Politik
der Regierung von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu vorbehaltlos.

Vor Scholz haben bisher nur vier Staats- und Regierungschefs Milei seit
dessen Amtsantritt vor einem halben Jahr empfangen: Israels Ministerpräsident
Benjamin Netanjahu, Italiens Regierungschefin Giorgia Meloni, El Salvadors
Präsident Nayib Bukele und Papst Franziskus als Staatsoberhaupt des Vatikans.
Die für argentinische Präsidenten üblichen Reisen in die wichtigen Nachbarländer
wie Brasilien und Chile ließ Milei wegen ideologischer Differenzen ausfallen. In
den USA war er zwar bereits mehrfach - aber ohne Termin im Weißen Haus.
Stattdessen traf er sich mit Tesla-Boss Elon Musk und Ex-Präsident
Trump./mfi/dde/DP/he

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