24.06.2024 12:57:18 - dpa-AFX: ROUNDUP/Immer mehr Pleiten: Unternehmen 'wacklig wie seit Jahren nicht mehr'

DÜSSELDORF (dpa-AFX) - Galeria Karstadt Kaufhof, FTI Touristik, Esprit
Europa - zahlreiche große Unternehmen in Deutschland sind in diesem Jahr in die
Schieflage geraten und haben Insolvenz angemeldet. Die Zahl der Pleiten von
mittleren und großen Betrieben hat sich In den ersten sechs Monaten des Jahres
2024 im Vergleich mit dem Vorjahr verdoppelt. Das teilte die
Wirtschaftsauskunftei Creditreform am Montag mit.

Aber nicht nur für die Großen sind es herausfordernde Zeiten. Auch insgesamt ist die Zahl der Unternehmensinsolvenzen deutlich gestiegen. Mit 11 000 waren es
knapp 30 Prozent mehr als im Vorjahreszeitraum. Es ist der höchste Stand seit
fast zehn Jahren. Der Leiter der Creditreform Wirtschaftsforschung,
Patrik-Ludwig Hantzsch, sieht dafür mehrere Gründe. "Die Unternehmen kämpfen im
ersten Halbjahr 2024 weiter gegen die Auswirkungen der Rezession in 2023,
anhaltende Krisen und die kraftlose konjunkturelle Entwicklung in diesem Jahr."
Dies breche zahlreichen Betrieben das Genick. "Die Unternehmensstabilität in
Deutschland ist derzeit so wacklig wie seit vielen Jahren nicht mehr", so
Hantzsch.

Branchenverband: "Katastrophale Lage im Wohnungsbau"

Im ersten Halbjahr waren etwa 133 000 Beschäftigte von einer Insolvenz
betroffen. Die Zahl der Firmenpleiten nahm in allen Wirtschaftsbereiche deutlich
zu. Die Dienstleistungsbranche verzeichnete 6500 Pleiten und legte damit um gut
ein Drittel zu. Einen starken Anstieg gab es auch im Baugewerbe (+27,5 Prozent)
und im verarbeitenden Gewerbe (+21,5). Auffällig ist Hantzsch zufolge vor allem
die Entwicklung im Bau-Sektor, dieser sei volkswirtschaftlich besonders
relevant.

Der Hauptgeschäftsführer des Zentralverbandes Deutsches Baugewerbe, Felix
Pakleppa, sagte zu den Zahlen: "Die deutliche Zunahme der Insolvenzen im
Bauhauptgewerbe ist besorgniserregend und vor allem auf die katastrophale Lage
im Wohnungsbau zurückzuführen." Genehmigungs- und Auftragszahlen seien stark
eingebrochen. Jetzt drohe der Weggang von Tausenden Fachkräften, die für
wichtige Aufgaben wie Wohnungsbau und Energiewende dringend benötigt würden,
sagte Pakleppa. Der Grund für ein grundsätzlich höheres Insolvenzrisiko sei,
dass Bauunternehmer sämtliche Kosten wie Baumaterial und Löhne vorfinanzieren
müssten.

Bauvorhaben verteuerten sich wegen des kräftigen Anstiegs der Kreditzinsen
und gestiegener Baukosten in den vergangenen zwei Jahren stark. Nach Angaben des
Hauptverbandes der Deutschen Bauindustrie sind die Firmen aus der Branche von
der Insolvenzwelle unterschiedlich stark betroffen. "Dass gerade Projektträger
aufgrund des kriselnden Wohnungsbaus in Schwierigkeiten geraten, ist nicht
verwunderlich", sagte Hauptgeschäftsführer Tim-Oliver Müller. Bei
mittelständischen und größeren Bauindustriebetrieben sei die Lage jedoch stabil.

Im Handel ist die Zahl der Firmenpleiten im ersten Halbjahr um ein Fünftel
gestiegen. Der Hauptgeschäftsführer des Handelsverbandes Deutschland (HDE),
Stefan Genth, sagte dazu: "Der Einzelhandel geriet in den letzten Jahren
angesichts einer hohen Kostenbelastung und eines schwachen privaten Konsums
unter Druck. Viele Unternehmen mussten sich den schwierigen Rahmenbedingungen
noch geschwächt aus den Jahren der Corona-Pandemie stellen." Seit 2020 mussten
laut HDE deutschlandweit etwa 46 000 Geschäfte schließen.

Aufgestaute Probleme der jüngsten Krisen

Vor allem bei größeren Betrieben liegt das Insolvenzgeschehen weit über dem
Niveau der vergangenen Jahre. Creditreform-Experte Hantzsch sieht die Ursache
vor allem in den aufgestauten Problemen der jüngsten Krisen. Zahlreiche
verschuldete Firmen könnten aufgrund der schlechten Wirtschaftslage den
Zahlungsverpflichtungen kaum nachkommen. Vor allem große Unternehmen würden die
Insolvenz als Chance in der Krise begreifen, um sich aus der Schieflage zu
befreien, so Hantzsch. Beispiele wie Galeria zeigten jedoch, dass dieser Weg
nicht immer funktioniere. Die Kaufhauskette hatte im Januar zum dritten Mal
innerhalb von weniger als vier Jahren einen Insolvenzantrag gestellt.

Zu den Branchen mit dem größten Risiko zählen laut Creditreform die Bereiche Abbrucharbeiten, Post-, Kurier- und Expressdienste, private Wach- und
Sicherheitsdienste, Hoch- und Tiefbau, Umzugstransporte sowie Restaurants,
Gaststätten, Cafés und Ähnliches. Hier liegt die Zahl der gefährdeten Betriebe
je 10 000 Unternehmen bei 500 und mehr.

Ebenfalls etwas gestiegen ist in Deutschland in den ersten sechs Monaten
2024 die Zahl der Verbraucherinsolvenzen. Sie lag mit 35 400 knapp sieben
Prozent über dem Vorjahr. Dies ist den Experten zufolge vor allem auf die
Inflation und hohe Zinsen zurückzuführen.

Anstieg in Niederlanden und Frankreich deutlich größer

Ein internationaler Vergleich von Creditreform zeigt: In den meisten
westeuropäischen Ländern sind die Insolvenzzahlen von Unternehmen zuletzt
angezogen, in einigen sogar stärker als in Deutschland. Besonders hoch war der
Anstieg im Jahr 2023 in den Niederlanden (+54,9 Prozent) und in Frankreich
(+35,6).

Wenig optimistisch fällt der Blick nach vorn aus. Das Leibniz-Institut für
Wirtschaftsforschung Halle (IWH) sah kürzlich zwar positive Signale. So war die
Zahl der Insolvenzen von Personen- und Kapitalgesellschaften in Deutschland im
Mai erstmals seit November 2023 wieder gesunken. Viele Experten erwarten jedoch,
dass die Insolvenzzahlen weiter steigen und in diesem Jahr zum ersten Mal wieder
das Niveau vor der Pandemie übertreffen. Der Kreditversicherer Allianz Trade
korrigierte seine Prognose für 2024 gerade nach oben: auf 21 500 Fälle. "Die
Insolvenzen haben merklich angezogen, sowohl in Deutschland als auch weltweit.
Mit einer Stabilisierung rechnen wir erst 2025", sagte der Leiter der
Insolvenzanalyse, Maxime Lemerle.

Das Statistische Bundesamt hatte für das vergangene Jahr 17 814
Firmenpleiten gezählt. Trotz eines deutlichen Anstiegs war das im langjährigen
Vergleich ein vergleichsweise niedriger Wert: Im Jahr 2009 während der Finanz-
und Wirtschaftskrise waren fast 33 000 Unternehmen hierzulande in die
Zahlungsunfähigkeit gerutscht./cr/DP/mis

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