03.07.2024 15:50:28 - dpa-AFX: HINTERGRUND: Lebt es sich überall gleich gut? Ampel sieht Fortschritte

BERLIN (dpa-AFX) - Robert Habeck hat wieder seine berühmten Schautafeln
dabei. Eine Pappe nach der anderen hält der Bundeswirtschaftsminister bei der
Vorstellung des "Gleichwertigkeitsberichts 2024" in die Höhe. Die Botschaft: Es
geht aufwärts, wirtschaftlich schwächere Regionen holen auf, die
Lebensbedingungen in Deutschland gleichen sich an. "Der Bericht erzählt eine
Geschichte von einer positiven Angleichung nach oben", sagt der
Grünen-Politiker. Das ist die eine Seite. Doch erzählt der Bericht noch eine
andere Geschichte: die von Unzufriedenheit, von Murren und Zukunftsängsten im
Land.

Auf mehr 220 Seiten hat die Bundesregierung alle erdenklichen Daten
zusammengetragen, um Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen Stadt und Land
herauszufiltern, zwischen starken Regionen und schwächeren, zwischen Ost und
West. Steht doch im Grundgesetz das Gebot der "Herstellung gleichwertiger
Lebensverhältnisse". Zudem wurden 31.000 Interviews geführt dazu, wie die
Menschen selbst die Lage einschätzen. Beides zusammen sei "wirklich bedeutsam"
und "Lektürestoff für die Sommerferien", sagt Habeck. "Ich halte das wirklich
für ein entscheidendes Kompendium zu der Frage, wie es Deutschland geht." Daran
könne man auch die Förderpolitik neu kalibrieren.

In 27 von 38 Kategorien geht es laut Regierung aufwärts

Wirtschaft, Gesellschaft, Infrastruktur, Klima und Umwelt: In diesen Feldern vergleicht der Bericht insgesamt 38 "Gleichwertigkeitsindikatoren". Dazu zählen
etwa das kommunale Steueraufkommen, die Arbeitslosenquote, die Zahl der
Straftaten, die Geburtenrate und Lebenserwartung, die Erreichbarkeit des
nächsten Supermarkts und der Anteil der Waldfläche an der Gesamtfläche der 400
Kreise und kreisfreien Städte.

In 27 der 38 Kategorien nähern sich laut Regierung die Verhältnisse an, bei
vier weiteren ist der Trend nicht eindeutig. Bei sieben geht es auseinander.
Dazu gehört etwa der Anteil von Fachkräften und Experten an den
sozialversicherungspflichtig Beschäftigten. Auch bei der Wohngebäudedichte, dem
Verhältnis von Kindern zu Kitaplätzen, dem Anteil der Einpersonenhaushalte und
dem Altenquotienten wachsen die Unterschiede. Habeck betont, Sorge bereite vor
allem der demografische Wandel. Will sagen: Regionen mit schrumpfender
Bevölkerung stehen vor großen Herausforderungen.

Die Menschen haben trotzdem einiges auszusetzen

Im Befragungsteil des Berichts zeigt sich dann: Die Menschen schätzen die
Situation teils ganz anders ein und sehen vor allem die Infrastruktur kritisch.
"Verkehrsanbindungen und Mobilitätsangebote werden von lediglich 44 Prozent als
gut beurteilt, gefolgt von der digitalen Infrastruktur mit 38 Prozent", heißt es
zum Beispiel. "In Bezug auf die Ansiedlung und Gründung neuer Unternehmen
schätzen bloß 35 Prozent der Befragten die Situation als gut ein."

Weiter geht es mit der Möglichkeit, bezahlbaren Wohnraum zu finden: "Mehr
als acht von zehn Befragten empfinden dies als sehr (42 Prozent) oder eher (41
Prozent) schwierig." In Großstädten wird das noch deutlich kritischer gesehen
als in ländlicheren Räumen. Und schließlich das Beispiel Bildung und Betreuung:
"Lediglich 43 Prozent der Befragten stimmen voll und ganz oder eher zu, dass die
Qualität der Schulen gut ist; nur 39 Prozent stimmen voll und ganz oder eher zu,
dass die Qualität der Kinderbetreuung gut ist."

Stimmung ist schlechter als die Lage - oder umgekehrt

Das Beispiel Kinderbetreuung nimmt Habeck auf, um auf die Stimmung im Land
zu kommen. Wieder hält er ein Schaubild hoch - den Vergleich zwischen dem
tatsächlichen Angebot von Kitas und Krippen und der Zufriedenheit mit dem
Angebot. Daran zeige sich unter anderem: Während die Betreuung tatsächlich in
den östlichen Bundesländern top sei, sei dort in einigen Regionen die
Zufriedenheit nicht ganz so hoch. Umgekehrt sei das Angebot der Betreuung in
Bayern schlechter, aber die Menschen nicht überall unzufriedener. "Die Lage ist
manchmal so: Wir sagen ja manchmal, die Stimmung ist schlechter als die Lage,
das stimmt für einen Teil. Aber manchmal ist die Stimmung auch besser als die
Lage."

Im Osten sei auch die wirtschaftliche Entwicklung derzeit stärker als im
Westen, betont der Wirtschaftsminister. Und doch sei die wahrgenommene
Wirklichkeit manchmal eine andere. Erklären lasse sich das nicht einfach. "Der
Bericht hat keinen Psychologieteil", sagt der Minister. Er verweist auf die
historischen Erfahrungen von Strukturwandel und Arbeitsplatzverlust. Seine
Kabinettskollegin, Innenministerin Nancy Faeser, sagt es so: "Die Menschen sind
krisenmüde." Keine ganz neue Erkenntnis. Die SPD-Politikerin hält fest: "Gute
und gleichwertige Lebensverhältnisse in ganz Deutschland sind entscheidend für
den gesellschaftlichen Zusammenhalt." Das sei für sie echte "Heimatpolitik".

Kritik ist garantiert

Die Opposition will Erfolgsmeldungen der Regierung wenige Wochen vor den
wichtigen Landtagswahlen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg ohnehin nicht so
stehen lassen. "Allem Schönreden durch Minister Habeck und Ministerin Faeser zum
Trotz: Der Gleichwertigkeitsbericht der Bundesregierung ist kein Grund zur
Freude, sondern sollte die Alarmglocken schrillen lassen", kommentiert die
Linken-Politikerin Heidi Reichinnek. Und Parteigründerin Sahra Wagenknecht meint
gar: "Der Gleichwertigkeitsbericht ist die nächste Klatsche für die Ampel.
Wohnen, Schulen, Verkehr, Gesundheit: Die Lebensverhältnisse waren in der
Bundesrepublik vielleicht noch nie so ungleichwertig wie derzeit."/abc/DP/jha

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