16.05.2024 16:32:15 - dpa-AFX: HINTERGRUND: Kaum Hoffnung auf Versöhnung nach Attentat auf Fico

BRATISLAVA (dpa-AFX) - Die Menschen in der Slowakei durchleben bange
Stunden. Am Tag nach dem Attentat auf Regierungschef Robert Fico kämpfen die
Ärzte weiter um dessen Leben. Die Tat ist für das Land ein noch größerer Schock
als der Doppelmord am Investigativ-Journalisten Ján Kuciak und dessen Verlobter
Martina Kusnirova im Februar 2018 und der Mordanschlag auf die als
LGBTI-Treffpunkt bekannte Bar Teplaren in Bratislava im Oktober 2022. Der
politische Hintergrund scheint diesmal schneller klar zu sein, als bei den
beiden anderen Attentaten. Innenminister Matus Sutaj Estok sprach von einem
klaren politischen Motiv, das sich aus den ersten Vernehmungen des Täters
ergeben habe.

In einer aus der Polizeistation geleakten Videoaufnahme, die alle relevanten Internetportale noch am Mittwochabend übernahmen, begründete der gleich nach
seinen Schüssen auf den Regierungschef festgenommene Angreifer
unmissverständlich die Schüsse auf Fico: "Ich stimme der Regierungspolitik nicht
zu", sagte er deutlich hörbar. Mit undeutlicherer Stimme nannte er dann
Beispiele - allen voran die Medienpolitik der Regierung, vor allem die geplante
Auflösung des öffentlich-rechtlichen Radios und Fernsehens RTVS. Dagegen hatten
die liberalen und konservativen Oppositionsparteien seit Wochen Tausende
Menschen zu Massendemonstrationen mobilisiert.

Der Fernsehsender TV Markiza berichtete, der Täter Juraj C. sei angeblich
schon bei Oppositionsprotesten gegen die Medien- und Ukraine-Politik der
Regierung aufgefallen. Fico selbst hatte erst vor Kurzem der liberalen
Opposition vorgeworfen, ein Klima der Feindschaft gegen seine Regierung zu
schüren. Es sei nicht auszuschließen, dass es angesichts der aufgeheizten
Stimmung irgendwann zu einer Gewalttat komme.

Bei den von der liberalen Opposition, die bei der Parlamentswahl im Herbst
knapp unterlegen war, schon seit Dezember organisierten Massenprotesten gegen
die Regierung riefen die Teilnehmenden regelmäßig in Sprechchören: "Fico ins
Gefängnis!" und "Wir wollen Fico nicht!". Bei allen Demonstrationen gegen die
Regierung waren Transparente mit der Aufschrift "Mafia!" zu sehen. Dieses
Schlagwort ruft hartnäckig den juristisch längst widerlegten Vorwurf in
Erinnerung, der Journalistenmord von 2018 sei von einer Verschwörung
italienischer Mafia-Clans mit Regierungspolitikern eingefädelt worden.

Teile des Regierungslagers warfen der Opposition und den mit ihr verbündeten liberalen Medien auch deshalb immer wieder vor, eine Art Putschversuch gegen die
legitime Regierung zu planen, wie es Fico, aber auch andere Regierungspolitiker
immer wieder formulierten. Auch am Mittwochabend wäre in Bratislava eine weitere
Massenkundgebung gegen die Regierung geplant gewesen. Hauptsächlich wäre es
dabei um den umstrittenen Plan von Kulturministerin Martina Simkovicova
gegangen, die öffentlich-rechtliche Sendeanstalt RTVS aufzulösen und durch ein
neues Unternehmen zu ersetzen.

Aus der Sicht der Opposition, aber auch der RTVS-Mitarbeiter und
Oppositionsmedien sollte damit ein willfähriges Propagandaorgan der Regierung
geschaffen werden. Oder wie RTVS-Redakteur Miro Frindt der Deutschen
Presse-Agentur sagte: "Es geht der Koalition um die Kontrolle der
Nachrichtensendungen". Eine Art Hofberichterstattung sollte die in Umfragen als
unabhängig und vertrauenswürdig bewertete bisherige RTVS-Berichterstattung
ersetzen.

Obwohl der liberale Oppositionsführer und Chef der größten liberalen
Oppositionspartei "Progressive Slowakei" (PS) diesen Kampf weiterhin für wichtig
und legitim hält, sagte er nach dem Attentat spontan die für den Abend geplante
Protestkundgebung in Bratislava ab. Auch andere Oppositionsparteien stimmten zu,
vorerst keine großen politischen Aktionen zu organisieren.

Die der Opposition näher als der Regierung stehende und noch bis 15. Juni
amtierende Präsidentin Zuzana Caputova rief gemeinsam mit ihrem bereits
gewählten Nachfolger, dem zum Regierungslager gehörenden Sozialdemokraten Peter
Pellegrini zur Mäßigung auf. Auch der Innen- und der Verteidigungsminister
appelierten aus dem Krankenhaus in Banska Bystrica, in dem der verletzte Fico
behandelt wurde, zur "Beruhigung" des polarisierten gesellschaftlichen Klimas
auf. Insbesondere sollten alle Parteien auf Attacken in sozialen Medien
verzichten, da diese eine Stimmung der Gewalt beförderten, sagte Innenminister
Matus Sutaj Estok.

Was aber rasch auffiel, waren sofortige Schuldzuweisungen in Nebensätzen.
Parlaments-Vizepräsident Lubos Blaha, einer von Ficos Stellvertretern in der
größten Regierungspartei "Richtung - Slowakische Sozialdemokratie" (Smer-SSD)
fügte seiner Mahnung zur Mäßigung sogleich den an Oppositionsmedien und
Oppositionsparteien gerichteten Nachsatz hinzu "Das ist euer Werk!" Andrej
Danko, der Chef der kleinsten, rechtspopulistischen Regierungspartei SNS warf
der Opposition vor, "Blut an ihren Händen" zu haben.

Umgekehrt kritisierten mehrere Oppositionspolitiker wie etwa der
konservative EU-Abgeordnete Ivan Stefanec, die Regierung sei selbst für das
Klima des Hasses verantwortlich, das so ein Attentat möglich gemacht habe.

Vergleichbare Attentate auf Regierungschefs in Europa hat es seit
Jahrzehnten nicht gegeben. Im März 2003 wurde der reformorientierte serbische
Ministerpräsident Zoran Djindjic in Belgrad bei einem Attentat erschossen, im
September des gleichen Jahres stirbt die schwedische Außenministerin Anna Lindh
nach einem Messerangriff in einem Stockholmer Kaufhaus. Im Oktober 2021 ersticht
in England ein 25-Jähriger während einer Bürgersprechstunde den 69 Jahre alten
konservativen Unterhausabgeordneten David Amess.

In Deutschland sorgt im Juni 2019 vor allem der Mord an CDU-Politiker Walter Lübcke für Entsetzen: Ein Rechtsextremist erschoss den Kasseler
Regierungspräsidenten auf dessen Terrasse in Wolfhagen. Dagegen überlebt im
Oktober 2015 die parteilose Henriette Reker kurz vor der Wahl zur Kölner
Oberbürgermeisterin einen Messerangriff durch einen Rechtsextremisten nur
knapp./ct/skc/DP/men

--- Von Christoph Thanei, dpa ---

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