24.05.2024 10:12:15 - dpa-AFX: INTERVIEW: LBBW-Chefökonom fordert Investitionen und Reform der Schuldenbremse

FRANKFURT (dpa-AFX) - Der Investitionsstau in Deutschland kann nach
Einschätzung des Chefvolkswirts der Landesbank Baden-Württemberg (LBBW), Moritz
Kraemer, nur mit einer Lockerung der Schuldenbremse behoben werden. "Die
Schuldenbremse sollte temporär ausgesetzt werden", forderte Kraemer am Freitag
in einem Interview mit der Finanz-Nachrichtenagentur dpa-AFX. Während
Deutschland die lahmende Wirtschaft mit mehr Investitionen in Schwung bringen
soll, warnt der Ökonom aber vor den Folgen der hohen Verschuldung in einigen
Ländern der Eurozone, die den Währungsraum wieder in eine tiefe Krise stürzen
könnte.

Kraemer bewertet vor allem die Haushaltsentwicklung der großen Euro-Länder
Frankreich und Italien als bedenklich. Frankreich hatte im vergangenen Jahr
seine Neuverschuldungsziele mit einem Defizit von 5,5 Prozent gerissen. Italiens
Haushaltslage ist noch schlechter und geht nicht zuletzt auf eine großzügige
Sonderregelung bei der Renovierung von Eigenheimen zurück, den sogenannten
"Superbonus". Die Gesamtverschuldung liegt in beiden Ländern deutlich über der
Marke von 100 Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung.

Allerdings hat die Europäische Zentralbank (EZB) als Folge der
Euro-Schuldenkrise, der bisher größten Bewährungsprobe des Währungsraums, eine
Absicherung gegen neue Krisen geschaffen. Die Notenbank kann über ihr Programm
TPI (Transmission Protection Instrument) im Ernstfall Staatsanleihen einzelner
Euro-Staaten kaufen. Dieser Schutzmechanismus ist nach Einschätzung von Kraemer
sinnvoll und hinreichend. Problematisch sei aber, dass die EZB nur eine
Übergangslösung bereitstellen könne. Entscheidend sei daher, dass die Länder
ihre Haushaltslage verbesserten und die Schuldenquoten zurückgingen, sagte der
Ökonom.

Weniger kritisch sieht Kraemer die Lage in Deutschland, der größten
Volkswirtschaft der Eurozone. Hier sollte mit einer Lockerung der Schuldenbremse
ein Defizit von zwei Prozent der Wirtschaftsleistung ermöglicht werden. Die im
Grundgesetz verankerte Schuldenbremse sieht vor, dass der Staat im Regelfall
nicht viel mehr Geld ausgeben darf, als er einnimmt. Abhängig von der
Wirtschaftslage ist nur eine geringe Neuverschuldung von 0,35 Prozent des
Bruttoinlandsproduktes erlaubt. Allerdings müsse sichergestellt werden, dass die
Mittel in Investitionen fließen und nicht einfach konsumiert werden, forderte
Kraemer.

Ökonom Kraemer stellte klar, dass Deutschland eine im internationalen
Vergleich geringe Verschuldung hat. "Deutschland hat zu Recht die Bestnote bei
der Beurteilung der Kreditwürdigkeit durch die führenden Ratingagenturen", sagte
der Chefvolkswirt. Dagegen hinkt die konjunkturelle Entwicklung den übrigen
Ländern der Eurozone hinterher. Zwar habe sich die deutsche Wirtschaft zuletzt
als "resilient" erwiesen, sagte Kraemer, der in diesem Jahr mit einem leichten
Wirtschaftswachstum von 0,3 Prozent rechnet. Allerdings gebe die jüngste
Entwicklung mit einer Aufhellung wichtiger Konjunkturindikatoren "keinen Anlass
für Freudentänze".

Generell schätzt Kraemer das Wachstumspotential der deutschen Wirtschaft als zu gering ein. Dies habe unter anderem demographische Gründe. "Wir müssen an die
Produktivität ran", forderte der Ökonom. Diese könnte durch einen
Bürokratieabbau verbessert werden. Mittlerweile werde der Druck auf die
Unternehmen beispielsweise durch das Lieferkettengesetz immer stärker. Nach
Einschätzung von Kraemer ist der Druck mittlerweile so stark, dass ein Abbau der
Bürokratie politisch durchsetzbar sei. Dies sei "ein lösbares Problem".

Angesichts der weitreichenden Ankündigungen Donald Trumps im Wahlkampf sieht der Chefvolkswirt bei einem möglichen Wahlsieg bei den US-Präsidentschaftswahlen
im November allerdings ein ernstes Problem auf die deutsche Wirtschaft zukommen.
Die Folge wäre ein Handelskrieg zwischen den USA und China, der auch die
deutsche Wirtschaft stark belasten würde. "Wenn Trump gewählt wird und er seine
Ankündigungen tatsächlich in die Tat umsetzt, rutscht Deutschland in die
Rezession", warnte Kraemer./jkr/bgf/

--- Von Bernhard Funck und Jürgen Krämer, dpa-AFX ---

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