26.05.2024 14:44:41 - dpa-AFX: POLITIK/Fünf Jahre nach dem Mord an Walter Lübcke: Das Entsetzen bleibt

KASSEL/WIESBADEN (dpa-AFX) - Am späten Abend erschießt der Rechtsextremist
Stephan E. den Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke auf dessen eigener
Terrasse. Aus nächster Nähe zielt er auf den CDU-Politiker und gibt als Grund
später dessen liberale Haltung zur Flüchtlingspolitik an. Die Tat in der Nacht
zum 2. Juni 2019 gilt als erster rechtsextremistischer Mord an einem Politiker
in der Bundesrepublik. Fünf Jahre später erschüttert sie noch immer - besonders
angesichts der jüngsten Angriffe auf Politiker.

Familie Lübcke: Politisch Engagierte sollen standhaft bleiben

Lübckes Familie appelliert vor dessen fünftem Todestag mit Blick auf die
Attacken an politisch Aktive, sich nicht einschüchtern zu lassen. "Gerade weil
die Familie Lübcke erlitten hat, wie aus Worten Taten werden, schaut sie mit
Entsetzen auf die aktuellen Angriffe auf Politikerinnen und Politiker - ob durch
Drohungen im Netz oder körperliche Attacken", lässt sie über einen Sprecher der
Deutschen Presse-Agentur auf Anfrage mitteilen. Ausdrücklich wolle sie alle
Betroffenen und all diejenigen, die sich für unsere Demokratie einsetzen,
bestärken, sich nicht von den Angriffen einschüchtern zu lassen. "Bleiben Sie
standhaft, weichen Sie nicht von Ihren Überzeugungen und Haltungen ab, Sie sind
nicht allein", betont sie und fordert besseren Schutz für Mandats- und
Amtsträger.

Realistisch betrachtet könnten leider nicht alle Taten verhindert werden,
jedoch müsse deutlich mehr für den Schutz der haupt- wie auch der ehrenamtlichen
Politikerinnen und Politiker sowie der Mandatsträgerinnen und Mandatsträger
getan werden. "Leidvoll hat die Familie erfahren, wie es ist, wenn der Schutz
nicht gegeben ist."

Wegen seines Engagements für Flüchtlinge war der Christdemokrat Lübcke zur
Hassfigur der extremen Rechten geworden. Er erhielt Morddrohungen und wurde vor
und nach seinem Tod Opfer von Hass und Hetze im Internet. Auf einer
Bürgerversammlung zu der geplanten Einrichtung einer Flüchtlingsunterkunft in
der nordhessischen Kleinstadt Lohfelden im Jahr 2015 verteidigte der damalige
Regierungspräsident das Vorhaben. Auf Buhrufe, Beschimpfungen und Provokationen
erwiderte er: "Es lohnt sich, in unserem Land zu leben. Da muss man für Werte
eintreten. Wer diese Werte nicht vertritt, der kann jederzeit dieses Land
verlassen, wenn er nicht einverstanden ist. Es ist die Freiheit eines jeden
Deutschen."

Unter den Besuchern der Veranstaltung war auch der Mann, der ihn vier Jahre
später auf seiner Terrasse im nordhessischen Wolfhagen-Istha ermorden sollte. Er
habe seinen Fremdenhass zunehmend auf Lübcke projiziert, seit sich dieser auf
der Bürgerversammlung für die Aufnahme von Flüchtlingen starkgemacht hatte, gab
Stephan E. später vor Gericht an. Er verbüßt eine lebenslange Haftstrafe.

Hessens Innenminister Poseck: Mord an Lübcke war tiefe Zäsur

Der schreckliche Tod Lübckes werde gerade vor dem Hintergrund der vermehrten Angriffe in den vergangenen Tagen und Wochen wieder in Erinnerung gerufen, sagt
Hessens Innenminister Roman Poseck. Er zeige, zu welchen Taten rechtsextrem
motivierte Täter fähig seien. Deshalb müsse man alles daransetzen, dass sich so
eine Tat niemals wiederholt. "Der Mord steht auch beispielhaft dafür, dass auf
Worte oft Taten folgen. Wer Hass sät, erntet Gewalt", sagt der CDU-Politiker.

Zuletzt hatten mehrere Angriffe auf Politikerinnen und Politiker Aufsehen
erregt. In Dresden wurde der SPD-Wahlkämpfer Matthias Ecke krankenhausreif
geschlagen, in Berlin gab es einen tätlichen Angriff auf Wirtschaftssenatorin
Franziska Giffey (SPD). Auch Politiker von AfD und Grünen wurden bedroht und
attackiert.

Extremismusforscher warnt vor Verrohung der demokratischen Kultur

Der Leiter des Demokratiezentrums Hessen, Reiner Becker, bezeichnet der Mord an Walter Lübcke als einen Tiefpunkt in der Historie der Bundesrepublik
Deutschland. "Ein Tiefpunkt im Kontext der Veränderung unserer Gesellschaft mit
Blick auf die Etablierung von Rechtspopulismus." Die Tat und ihre Folgen seien
neben der menschlichen Tragödie eine Katastrophe für die Demokratie. "Der Mord
an Walter Lübcke ist ein Punkt, an dem man festmachen kann, wo Demokratie
möglicherweise erodiert", so der Extremismusforscher.

Dass sich die Bedrohungslage von Amtsträgern auf kommunalpolitischer Ebene
seither nicht verbessert hätte, zeigten die jüngsten Angriffe auf Politiker.
"Insgesamt zeigt sich, dass auch die kommunale Ebene ein Austragungsort geworden
ist für gesellschaftspolitische Polarisierung", erklärt Becker. "Wir sehen
daran, wie sich politische Kultur verändert und verhärtet hat."

Zwar sei die Sensibilität gegenüber Grenzüberschreitungen größer geworden
und es seien verschiedenen Maßnahmen ergriffen worden. Es sei jedoch wichtig,
diese Wahrnehmung weiter zu stärken. "Es muss darauf aufmerksam gemacht werden,
dass die Verantwortung für unser Gemeinwesen nicht am eigenen Gartenzaun endet."
Becker vergleicht die Demokratie mit einem Baum, bei dem das feine Wurzelwerk
für Halt sorge. Es könne kaputtgehen, während der Baum noch völlig gesund wirke.
"Eines Tages kippt der Baum einfach um, ohne dass Wind wehen muss. Und wir alle
fragen uns, warum. Weil wir uns dieses feine Wurzelwerk nicht angeschaut
haben."/nis/DP/he

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