22.05.2024 15:37:13 - dpa-AFX: POLITIK/ROUNDUP 4/AfD in der Krise: Europawahlkampf ohne Spitzenkandidaten

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BERLIN (dpa-AFX) - Gut zwei Wochen vor der Europawahl steckt die AfD in
schweren Turbulenzen. Die Parteispitze erteilte ihrem eigenen Spitzenkandidaten
Maximilian Krah am Mittwoch ein Auftrittsverbot. Krah selbst bestätigte seinen
Rückzug aus dem Wahlkampf und aus dem Bundesvorstand. Konkreter Anlass waren
umstrittene Äußerungen Krahs zur SS. Doch stand der 47-jährige Sachse ohnehin
unter Druck wegen der Spionageaffäre um einen Mitarbeiter und wegen seiner Nähe
zu Russland und China. Auch die Nummer zwei der AfD-Europaliste, Petr Bystron,
wird nach Korruptionsermittlungen vorerst keinen Wahlkampf mehr machen.

Ein Wahlkampf ohne Spitzenkandidaten, sinkende Umfragewerte, Niederlagen vor Gericht, Konkurrenz durch das Bündnis Sahra Wagenknecht - für die AfD ist es
eine schwarze Serie. Alle seien total angefressen, hieß es am Mittwoch.
Gleichwohl lag die Rechtsaußenpartei in Umfragen zur Europawahl am 9. Juni
zuletzt mit 15 bis 16 Prozent immer noch deutlich über ihrem Ergebnis von 2019,
als sie 11,0 Prozent der Stimmen und elf Mandate gewann. Wie und ob
Anhängerinnen und Anhänger der AfD auf das interne Durcheinander reagieren, ist
offen.

Nützt oder schadet es der Partei, jetzt mit Krah zu brechen? Und was
bedeutet das überhaupt? Die Briefwahl läuft schon, Krah ist von der AfD-Liste
praktisch nicht mehr zu tilgen. Stand jetzt dürfte er erneut in das
Europaparlament einziehen. Nur falls er selbst verzichtet, ist seine Karriere
dort zu Ende. Genau darauf zielte auch prompt die politische Konkurrenz.
CSU-Generalsekretär Martin Huber forderte, Krah müsse seinen Sitz im
Europaparlament aufgeben. Ähnlich äußerte sich der CDU-Europaabgeordnete Peter
Liese. Grünen-Chef Omid Nouripour nannte es ein fadenscheiniges Manöver, den
Kandidaten bis zum Wahltag zu verstecken. Krah selbst reagierte auf eine Anfrage
zum Mandatsverzicht zunächst nicht.

Interview war Stein des Anstoßes

Auslöser der akuten Krise ist ein Interview Krahs mit der italienischen
Zeitung "La Repubblica", die nach der nationalsozialistischen SS fragte. Die
sogenannte Schutzstaffel Adolf Hitlers bewachte und verwaltete unter anderem die
Konzentrationslager und war maßgeblich für Kriegsverbrechen verantwortlich. Bei
den Nürnberger Prozessen nach Ende des Zweiten Weltkriegs wurde sie zu einer
verbrecherischen Organisation erklärt. Krah sagte in dem Interview: "Ich werde
nie sagen, dass jeder, der eine SS-Uniform trug, automatisch ein Verbrecher
war." Auf die Frage, ob die SS Kriegsverbrecher seien, antwortete er: "Es gab
sicherlich einen hohen Prozentsatz an Kriminellen, aber nicht alle waren
kriminell."

Daraufhin signalisierte zuerst der französische Rassemblement National von
Marine Le Pen: Es reicht. Der RN sitzt bisher mit der AfD im Europaparlament in
der Fraktion ID, kündigt nun aber die Zusammenarbeit auf. RN-Parteichef Jordan
Bardella sagte im Sender TF1: "Ich denke, dass die AfD, mit der wir im
Europäischen Parlament seit fünf Jahren zusammengearbeitet haben, Linien
überschritten hat, die für mich rote Linien sind." Nach der Wahl werde man neue
Verbündete haben und nicht mehr an der Seite der AfD sitzen.

"Nie tiefer fallen als in Gottes Hand"

Es folgten am Mittwoch AfD-Krisensitzungen. Erst besprach sich der
Bundesvorstand telefonisch, dann wurden auch die Landesvorsitzenden einbezogen.
Schon während der Sitzung des Bundesvorstands meldete "Bild", die Parteispitze
habe gegen Krah ein Auftrittsverbot im Wahlkampf verhängt. Krah konterte kurz
darauf auf der Plattform X mit seiner eigenen Lesart: Er verzichte selbst auf
weitere Wahlkampfauftritte und trete als Mitglied des Bundesvorstands zurück.

Der 47-jährige Sachse verpackte das in die poetische Botschaft: "Man kann
nie tiefer fallen als in Gottes Hand. Ich nehme zur Kenntnis, dass sachliche und
differenzierte Aussagen von mir als Vorwand missbraucht werden, um unserer
Partei zu schaden. Das Letzte, was wir derzeit brauchen, ist eine Debatte um
mich." Die Parteispitze formulierte dürrer, aber eindeutig: "Im Ergebnis wurde
ein massiver Schaden für die Partei im laufenden Wahlkampf festgestellt, für den
der Spitzenkandidat den Vorwand geliefert hat." Krahs "konsequenter Rückzug aus
der Öffentlichkeit wurde mehrheitlich begrüßt".

Von Anfang an umstritten

Die Parteivorsitzenden Tino Chrupalla und Alice Weidel bringt der ganze
Vorgang in eine heikle Lage. Krah galt schon bei seiner Nominierung in Magdeburg
im vergangenen Jahr eher als Wunschkandidat des Thüringer Landeschefs Björn
Höcke. Chrupalla und Weidel arrangierten sich. Kritik an Krahs Russland- und
China-Nähe gab es von Anfang an, Streit mit dem RN in Straßburg und Brüssel
ebenfalls. Krah machte Furore mit krawalligen Tiktok-Videos nach dem Motto
"echte Männer sind rechts" und Werbung für die traditionelle Rolle der Frau. Er
bekannte sich zum Begriff "Remigration", den andere in der Partei inzwischen
meiden.

Zunehmend eng wurde es für Krah in den vergangenen Wochen: Erst Vorwürfe, er und Bystron hätten Geld vom prorussischen Portal "Voice of Europe" genommen -
was beide bestreiten. Dazu die Verhaftung eines Mitarbeiters von Krah als
mutmaßlicher chinesischer Spion. Bei Krah überprüfen Staatsanwaltschaften laut
Medienberichten, ob es Ermittlungen wegen möglicher chinesischer Zahlungen geben
soll. Nach einem Krisengespräch mit Weidel und Chrupalla hatte Krah bereits
seine Teilnahme am Wahlkampfauftakt der AfD am 27. April in Donaueschingen
abgesagt. Später nahm er die Auftritte aber wieder auf.

Gegen Bystron laufen inzwischen Ermittlungen wegen des Anfangsverdachts der
Bestechlichkeit und der Geldwäsche. Der AfD-Bundestagsabgeordnete bestätigte am
Mittwoch, dass auch er nun nicht mehr im Wahlkampf auftreten will, aus
familiären Gründen, wie er sagte. "Meine engsten Familienmitglieder sind zum
wiederholten Mal Opfer einer Hausdurchsuchung und medialer Hetze geworden",
sagte Bystron der Deutschen Presse-Agentur. "Wer nicht versteht, dass ich mich
zuerst um die kümmern muss, hat kein Herz."

Bundesparteitag im Juni

Für die AfD könnte der Eklat mit dem Rassemblement National einen
Machtverlust auf europäischer Ebene bedeuten. Auch der italienische Partner Lega
scheint auf Distanz. Die ultrarechten Fratelli d'Italia von Italiens
Ministerpräsidentin Giorgia Meloni sind auf die AfD ohnehin nicht gut zu
sprechen. Die österreichische FPÖ ließ mitteilen, die Frage nach Kooperationen
stelle sich erst nach der Wahl. Doch wo die AfD künftig Partner findet, ist
unklar.

Auch innerhalb der AfD könnte der Streit über Krah ein Nachspiel haben - auf dem Bundesparteitag Ende Juni in Essen. Wie kommt das Krisenmanagement von
Weidel und Chrupalla an? Schon aus den Sitzungen am Mittwoch drang einiges nach
außen. So wurde kolportiert, dass einigen Funktionären das Vorgehen gegen Krah
nicht ausreiche. Die "Welt" berichtete von einem Antrag an den Bundesvorstand,
wonach Krah und Bystron Mitgliedsrechte entzogen werden sollten. Auch das Wort
Parteiausschluss machte die Runde. Eine Mehrheit gab es dafür vorerst nicht.
Doch der Streit ist mit Sicherheit nicht zu Ende./vsr/DP/ngu

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