17.06.2024 06:30:04 - dpa-AFX: ROUNDUP: Fleischverzicht, Fleischersatz und Fitness - Forschung für Fakten

KARLSRUHE (dpa-AFX) - Beide Beine auf dem Boden, nicht am Stuhl anlehnen,
den Arm anwinkeln und dann kräftig mit der Hand zudrücken. So sehr, dass es
zittert. Lea Böckstiegel hält ein Hand-Dynamometer, das die Griffstärke misst -
ein Indikator für die gesamte Muskelstärke. Sie ist Probandin bei der bislang
größten Studie zu pflanzenbasierter Ernährung im deutschsprachigen Raum. Seit
etwa vier Jahren lebt Böckstiegel vegetarisch, verzichtet auf Fleisch und Fisch.
Und will nun viel über ihr Leben, ihre Gesundheit und Essgewohnheiten
preisgeben: umfassend und grammgenau. "Ich wollte schon immer an so einer Studie
teilnehmen."

Das kommt nicht von ungefähr: Böckstiegel arbeitet am Max Rubner-Institut
(MRI), dem Bundesforschungsinstitut für Ernährung und Lebensmittel in Karlsruhe.
Es ist eines von acht Forschungszentren der sogenannten Coplant-Studie. Das sei
aber nicht der Grund für die Teilnahme, sagt Böckstiegel: "Ich finde den Inhalt
der Studie spannend."

Die Forschenden wollen herausfinden, welche Auswirkungen die Ernährung auf
Gesundheit und Fitness hat. Teilnehmerinnen und Teilnehmer erfahren natürlich
die Details: Ist der rechte Arm kräftiger als der linke? Wie sieht das große
Blutbild aus - auch im Vergleich zu Referenzwerten? "Solche Laborwerte kriegt
man sonst nur vom Arzt", sagt Böckstiegel.

Wenig wissenschaftliche Fakten

Das Internet und Büchereien sind voll von Ernährungstipps und vermeintlichen Erkenntnissen darüber, wie sich Ernährungsstile auf den Körper und
Leistungssport auswirken. Blogger, Magazine und Krankenkassen mischen hier zum
Beispiel mit. Doch während das Interesse an veganer und vegetarischer Ernährung
stetig wächst, gibt es dazu wenige wissenschaftlich belastbare Daten.

"Wer sich vorwiegend pflanzlich ernährt, hat ein geringeres Risiko für viele chronische Erkrankungen. Ob dies auch für eine vegane Kost gilt, ist bisher
nicht ausreichend untersucht", sagt Benedikt Merz, Leiter der Coplant-Studie am
MRI. Bei größeren Querschnittsstudien seien Veganer oft nicht eingeschlossen
gewesen. "Außerdem stehen wir mit der leichten Verfügbarkeit von
hochverarbeiteten pflanzlichen Ersatzprodukten vor einer ganz neuen Situation."
Auch die Deutsche Gesellschaft für Ernährung hat im Zuge einer Studie zum 14.
DGE-Ernährungsbericht festgestellt, dass es weiteren Forschungsbedarf gibt.

Frauen und Junge beim Fleischverzicht führend

Etwa vier von zehn Menschen bezeichnen sich laut einer repräsentativen
Umfrage im Auftrag des Bundesverbands des Deutschen Lebensmittelhandels (BVLH)
aus dem vergangenen Jahr als Flexitarier, schränken also ihren Fleischkonsum
bewusst ein. Neun Prozent der Bevölkerung ernähren sich demnach vegetarisch,
verzichten also auf Fleisch und Fisch, aber nicht auf Eier oder Milch und daraus
hergestellte Produkte. Drei Prozent leben vegan, essen also gar keine tierischen
Produkte. Besonders ausgeprägt ist der Verzicht auf Fleisch bei Frauen und den
unter 30-Jährigen, wie aus der Befragung hervorgeht.

Angesichts dessen wenig überraschend ist der Fleischverzehr in Deutschland
nach vorläufigen Zahlen der Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung
vergangenes Jahr auf 51,6 Kilogramm pro Kopf gesunken. Zehn Jahre zuvor waren es
noch 61,6 Kilogramm.

Auf der anderen Seite ist das Angebot an Fleischersatzprodukten,
Pflanzendrinks und anderen veganen Lebensmitteln so groß wie nie. Wie sich deren
Verzehr langfristig auf den Körper auswirkt, was im Stoffwechsel passiert, wenn
nur noch bestimmte oder ausschließlich pflanzliche Lebensmittel gegessen werden,
und welche Ernährungsweise am gesündesten und nachhaltigsten ist, wollen die
Forschenden mit der Coplant-Studie herausfinden.

Für einzelne Inhaltsstoffe der Ersatzprodukte etwa kenne man zwar die
Auswirkungen, sagt Merz am MRI. Aber im Zusammenspiel und auf Dauer sei die
Sache komplexer.

6000 Teilnehmer und Teilnehmerinnen gesucht

Koordiniert vom Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) sollen bis 2027
insgesamt 6000 Probandinnen und Probanden im Alter von 18 und 69 Jahren für die
Studie gefunden werden, die sich vegan, vegetarisch, pescetarisch (Fisch, aber
kein Fleisch) oder gemischt ernähren. In Karlsruhe wollen die Forschenden auch
Schwangere, Stillende und Kinder einbeziehen.

Erwachsene erwarten zwei mehrstündige Untersuchungen inklusive etwa
Blutabnahme, Messung der Knochendichte, Urin- und Speichelprobe. Unter anderem
geht es um die Aufnahme von Nährstoffen, Schwermetallen und Schimmelpilzgiften
sowie eine Analyse des Mikrobioms im Darm. Zudem müssen sie über eine App wenige
Tage detailliert Daten zur Ernährung erheben. Dazu gehört etwa anzugeben, ob
rohe oder gekochte Möhren auf den Tisch kommen, und per Küchenwaage zu messen,
wie viel Gramm Apfel ins Müsli geschnippelt werden.

Merz geht davon aus, dass Studien-Teilnehmerinnen und -Teilnehmer im Laufe
der zwei Jahrzehnte, während derer sie alle paar Jahre befragt und untersucht
werden sollen, auch mal ihre Ernährungsweise wechseln. "Die Realität ist, dass
man Ernährungsformen ändert." Für die Wissenschaft sei das kein Problem - denn
auch daraus ließen sich Erkenntnisse gewinnen. Dass Thesen und ältere Fakten
überworfen werden, gehöre ebenso dazu: So hätten Vorstudien gezeigt, dass ein
Mangel an Vitamin B12 bei Veganern kein großes Thema mehr sei, sagt Merz. Viele
wüssten von der Problematik und nähmen Nahrungsergänzungsmittel.

Dass fleischfreie Ernährung im Jahr 2024 immer noch ein Diskussionsthema
ist, erlebt Probandin Böckstiegel, wenn sie nach Hause kommt: "Meine Oma fragt
dann, was sie jetzt bloß zu Essen machen soll." Beim Grillen sei ihre Familie so
offen, dass sie nicht nur fleischfreie Würstchen-Varianten auf den Rost legt -
sondern auch selbst mal probiert./kre/DP/zb

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