11.07.2024 10:47:34 - dpa-AFX: EM 2024: Luis de la Fuente und das 'wilde Tier' Fußball

DONAUESCHINGEN (dpa-AFX) - Selbst beim größten Jubel sitzt die Krawatte von
Luis de la Fuente noch perfekt - bisher. Im EM-Finale in Berlin gegen England
könnte sie bei Spaniens neuem Erfolgstrainer doch noch verrutschen. Dem
63-Jährigen mit dem Auftreten eines bescheidenden Hochschulprofessors winkt mit
der Furia Roja der größte Erfolg seit den glorreichen Jahren um den WM-Triumph
2010. De la Fuentes Anteil daran ist kaum hoch genug einzuschätzen.

Der Nationalcoach erwartet am Sonntag (21.00 Uhr/ARD und Megenta TV) ein
"riesiges Spektakel" gegen die Three Lions um Kapitän Harry Kane. Es träfen
"sehr unterschiedliche Spielsysteme" aufeinander. "England ist körperlich sehr
stark. Wir wollen unseren Stil durchsetzen, das Spiel dominieren und versuchen,
keine Fehler zu machen", sagte De la Fuente.

Schon zwei EM-Titel

"Luis ist ein exzellenter Trainer, seine Arbeit in den Jahren zuvor in den
Juniorenmannschaften trägt Früchte, das sehen wir jetzt beim Turnier, er kennt
viele dieser Spieler bestens", lobte dieser Tage der einstige Weltmeister- und
Europameister-Macher Vicente del Bosque im "Kicker"-Interview. "Aber Luis
versteht es darüber hinaus auch, die Gruppe in der Balance zu halten. Die
Ergebnisse zeigen das."

Zwei EM-Titel hat De la Fuente schon vorzuweisen - mit Spaniens U19 und U21. Dazu holte er mit den Toptalenten wie Dani Olmo und Pedri Olympia-Silber in
Tokio. Beim Königlich-Spanischen Fußball-Verband musste er sich zehn Jahre lang
hocharbeiten, um nach dem nächsten WM-Desaster 2022 in Katar das höchste
Traineramt zu bekommen.

In der EM-Qualifikation noch in der Kritik

Heftiger Gegenwind schlug De la Fuente nach seiner ersten Niederlage
entgegen: Nach dem 0:2 im März 2023 in der EM-Qualifikation gegen Schottland in
Glasgow schrieben die spanischen Medien von einer Auswahl "ohne Talent und
Charakter im Hampden Park".

Monate später geriet der Nationalcoach in die Kritik, weil er bei einer
Verteidigungsrede von Luis Rubiales Applaus gespendet hatte. Später schrieb er
in einem Kommuniqué, dass er das "falsche und unangebrachte Verhalten" des
Verbandspräsidenten, der durch den Kuss-Skandal bei der Frauen-WM weltweit in
Verruf geraten war, vorbehaltlos verurteile.

Alleiniger Rekord winkt

Der Fall Rubiales ist bei dieser EM erstaunlicherweise bisher kein Thema
gewesen im Umfeld der Selección. Es geht nur noch um die Supertalente Lamine
Yamal und Nico Williams, um die Siegesserie des Finalisten und die Hoffnung,
sich mit dem vierten Titel zum Rekord-Europameister zu krönen.

Die breite Brust von De la Fuente - der einstige Linksverteidiger vom FC
Sevilla und von Athletic Bilbao schwitzt regelmäßig im Kraftraum - verkörpert
das Selbstvertrauen der Spanier. Auch wenn der Chefcoach nach jedem Erfolg
betont, man werde die Beine auf dem Boden halten. "Ich akzeptiere Kritik und bin
ein ziemlicher Experte im Umgang mit Kritik", sagte er nach dem Halbfinal-Sieg
in München gegen Frankreich
- wofür es an diesem Tag keinerlei Anlass gab.

Ganz anders als seine Vorgänger

"Ich kann mich sehr glücklich schätzen, 26 Fußball-Genies leiten zu können", betonte De la Fuente. "Ich bin sehr stolz, dass uns die ganze Nation in Spanien
feiert. Wir schaffen dieses Gefühl der Hoffnung. Die Menschen träumen und freuen
sich." Die Spieler, die ihren Trainer "Mister" nennen, seien "Vorbild für jeden
jungen Menschen in unserem Land."

Während sein Vorgänger Luis Enrique oft am Spielfeldrand herumtobte und auf
seinem Twitch-Kanal viel Persönliches preisgab, hält sich De la Fuente vornehm
zurück.

Ein aufsehenerregendes Szenario wie 2018 bei der WM in Russland mit Julen
Lopetegui ist bei Spaniens loyalem Trainer schwer vorstellbar: Nachdem damals
verkündet wurde, dass Lopetegui als Chefcoach nach dem Turnier mittels einer
Ausstiegsklausel zu Real Madrid wechseln werde, trennte sich der Verband einen
Tag später von ihm - zwei Tage vor dem WM-Auftaktspiel der Spanier gegen
Portugal. Unter Interimscoach Fernando Hierro scheiterte die Mannschaft dann im
Achtelfinale am russischen Gastgeber-Team.

Unter De la Fuente vertikaler und entschlossener

Das irgendwann brotlose Tiki-Taka der Spanier hat unter De la Fuente
ausgedient. Der Nationalcoach habe verstanden, dass die Mannschaft Zeit brauchen
würde, seine Ideen anzunehmen. "Unser Ballbesitz dient dazu, dem Gegner Schaden
zuzufügen. Wir sind in unserem Spiel vertikaler und entschlossener geworden",
erklärte Mittelfeldlenker Rodri im Interview der Süddeutschen Zeitung".

Über sich selbst und seine Rolle spricht De la Fuente nur ungern. "Ich
möchte einfach nur von meinen Spielern wertgeschätzt werden. Ich wertschätze sie
enorm. Das ist das, was mich antreibt", erklärte er nach dem 2:1 gegen
Deutschland. Da sagte der Freund des Stierkampfes und des gewählten Ausdrucks
nach dem Abpfiff den schönen und überaus passenden Satz: "Ein Spiel ist wie ein
lebendes, wildes Tier."/ujo/DP/jha

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