17.06.2024 16:40:00 - dpa-AFX: POLITIK/ROUNDUP: Staatsschutz ermittelt zu mutmaßlich rassistischem Angriff

GREVESMÜHLEN/BERLIN (dpa-AFX) - Der mutmaßlich rassistisch motivierte
Angriff auf zwei Kinder aus Ghana hat neben Ermittlungen der Polizei auch eine
politische Debatte in Gang gesetzt. Die Innenminister von Bund und Ländern
sollten sich bei ihrer Frühjahrskonferenz in dieser Woche mit Maßnahmen gegen
rassistische Gewalt beschäftigen, sagte die Grünen-Innenpolitikerin Irene
Mihalic. "Der abscheuliche rassistische und feige Angriff durch eine große
Gruppe von Menschen auf zwei ghanaische Kinder in Grevesmühlen darf nicht
folgenlos bleiben", sagte die parlamentarische Geschäftsführerin der
Grünen-Bundestagsfraktion am Montag der Deutschen Presse-Agentur. Die
Innenministerkonferenz sei nun gefordert, sich mit dem Vorfall und den nötigen
Konsequenzen zu befassen.

Zugewanderte Kinder sollen sich sicher fühlen können

"Eine solche Attacke kann zu Nachfolgetaten animieren und darüber hinaus
verheerende Auswirkungen auf das Sicherheitsgefühl von schwarzen und
migrantischen Kindern und Jugendlichen in Deutschland haben", warnte Mihalic.
Dem müsse entschieden entgegengewirkt werden.

Nach Polizeiangaben waren in der mecklenburgischen Stadt am Freitagabend ein achtjähriges Mädchen und seine zehn Jahre alte Schwester aus einer Gruppe von
etwa 20 Jugendlichen und Heranwachsenden heraus angegriffen worden. Dem jüngeren
Mädchen sollen die Angreifer unter anderem ins Gesicht getreten haben. Als die
Eltern hinzukamen, soll es laut Polizei auch mit diesen zu einer
Auseinandersetzung gekommen sein. Die Achtjährige und der Vater wurden leicht
verletzt und kamen kurzzeitig in ein Krankenhaus.

Als Polizisten vor Ort eintrafen, soll eine Person die Opfer beim Weggehen
auch rassistisch beleidigt haben. Der Staatsschutz hat die Ermittlungen
übernommen. Der Vater der Mädchen sagte der "Bild", er und seine Familie wollten
sich nicht aus der Stadt vertreiben lassen "Wir leben seit 2016 in Grevesmühlen,
wir bleiben hier", zitierte ihn die Zeitung.

Die Innenministerinnen und Innenminister von Bund und Ländern treffen sich
an diesem Mittwoch zu Beratungen in Potsdam. Bei ihrem dreitägigen Treffen wird
es unter anderem um Bevölkerungsschutz, europäische Asylpolitik und
Abschiebungen gehen. Im ersten Quartal dieses Jahres zählte die Polizei laut
vorläufigen Zahlen bundesweit 46 rechts motivierte Gewalttaten, bei denen
Rassismus eine Rolle spielte. Acht dieser Straftaten wurden demnach in
Mecklenburg-Vorpommern registriert.

Rechtsextremismusforscher beobachtet eskalierende Enthemmung

Der Direktor des Kompetenzzentrums für Rechtsextremismus- und
Demokratieforschung der Universität Leipzig, Oliver Decker, sieht einen
Zusammenhang mit der Europawahl am 9. Juni, bei der die AfD in allen
ostdeutschen Flächenländern jeweils die meisten Stimmen erhalten hatte. Er
erklärte: "Wenn ich vermute, dass die Norm der Ächtung von Gewalt in meinem
Umfeld nicht mehr gilt, dann kann ich dem Bedürfnis nachgehen." In diesem Fall
bedeute dies, den eigenen Ressentiments freien Lauf zu lassen, bis hin zur
Ausübung von Gewalt. Die AfD zu wählen, sei bereits "Kennzeichen einer
Radikalisierung", fügte er hinzu.

Zu den Ursachen der "eskalierenden Enthemmung", die in Teilen der
Gesellschaft aktuell - nicht nur im Osten - zu beobachten sei, zählt Decker das
Erleben tatsächlicher oder vermeintlicher Ungerechtigkeit. Wer in seinem Leben
nicht nur positive Folgen der Liberalisierung erlebe, suche oft an anderer
Stelle nach einem Ventil für die aus dieser Situation heraus entstandenen
Aggressionen. Das gelte selbst für Menschen, die sich auf den Prozess der
Liberalisierung einst freiwillig eingelassen hätten.

Gleichzeitig entstehe bei Betroffenen oft eine Weltsicht, in der das "Wir"
klar abgegrenzt werde gegen eine wie auch immer definierte Gruppe "der Anderen".
Diese würden dann als Gegner oder Feinde empfunden. Ein solches Denken sei meist
verbunden mit dem Wunsch nach einer Art Schutzmacht, die sich vermeintlich für
die eigene Gruppe starkmache, sagte der Sozialpsychologe.

In den vergangenen Wochen hatten mehrere Vorfälle für Schlagzeilen gesorgt,
bei denen Feiernde bei Volksfesten und privaten Partys mit rassistischen
Gesängen aufgefallen waren. Wegen rechtsextremer Parolen und volksverhetzendem
Gegröle hat es im Saarland in der Nacht zum Samstag gleich zwei Polizeieinsätze
gegeben.

Sogenannte Neue Rechte versuchten, ihre Ideologie in die Mitte der
Gesellschaft zu tragen, hatte der Präsident des Bundesamtes für
Verfassungsschutz, Thomas Haldenwang, vor einigen Tagen in einem Interview
gesagt. Es gehe ihnen darum, "das, was früher unsagbar war, wieder sagbar zu
machen"./abc/DP/ngu

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