03.07.2024 05:52:03 - dpa-AFX: Vogelgrippe bei Rindern - 'Euter ist für das Virus ein Huhn'

GREIFSWALD/BERLIN (dpa-AFX) - In den USA steigt die Zahl der mit Vogelgrippe
infizierten Rinder. Mehr als 130 erfasste H5N1-Infektionen in einem Dutzend
US-Bundesstaaten gibt es nach Angaben der US-Gesundheitsbehörde CDC inzwischen.
Noch immer sei die Datenlage zu den Übertragungen dünn und Gegenmaßnahmen liefen
nur schleppend an, bemängelt der Vizepräsident des Friedrich-Loeffler-Instituts
(FLI), Martin Beer. Bekommen die USA den Erreger nicht in den Griff, "hätte man
unter Umständen weltweit eine völlig neue Rinderkrankheit".

Das Virus H5N1 kursiert seit Jahrzehnten verstärkt unter Vögeln - zunächst
in Asien, inzwischen nahezu weltweit. Wasserbüffel oder andere Rinder-Arten habe
es in all den Jahren nie befallen, sagt Beer. 2021 gelang dem Erreger der Sprung
nach Nordamerika - und plötzlich, erstmals wohl im Herbst 2023, erkrankten Kühe.
Forscher sind überrascht und zunehmend besorgt.

Was bedeutet der Sprung auf Rinder?

Weltweit werden 1,5 Milliarden Rinder gehalten, wie Beer sagt. Entstünde aus H5N1 eine neue, global auftretende Rindergrippe, stiege auch das Risiko für
andere Nutztiere - etwa, wenn verunreinigte Rohmilch an Schweine verfüttert
wird. Hinzu kommt: Ein Säugetier ist dem Menschen biologisch näher als ein
Vogel. Das Zoonose-Risiko - also das Risiko für einen Übergang vom Tier auf den
Menschen - kann abhängig von den erfolgten Anpassungen größer sein, wie Beer
erklärt.

Um was für ein Virus geht es?

H5N1 ist ein Influenza-A-Virus wie die beim Menschen kursierenden Erreger
der saisonalen Grippe. H und N bezeichnen zwei Eiweiße der Virushülle:
Hämagglutinin und Neuraminidase. Sie kommen jeweils in verschiedenen Subtypen
vor (H1 bis H16 und N1 bis N9). Der Name H5N1 bedeutet also die Kombination der
Eiweiße H5 und N1 auf der Oberfläche der Variante.

Seit 1997 werden verstärkt auf H5N1 zurückgehende Ausbrüche erfasst, wie
FLI-Experte Beer erklärt. Seit 2016 breite sich eine Untervariante des Erregers
aus, die sogenannte Klade 2.3.4.4b. Folge waren verheerende
Vogelgrippe-Ausbrüche in inzwischen fast allen Teilen der Welt bei Wildvögeln,
auch Geflügel und - seltener - Säugetiere wie Meeressäuger, Nerze, Füchse und
Bären waren betroffen. Verschont blieb - bisher - nur Australien.

Wie passierte der Sprung zum Rind?

Nach derzeitigem Analysestand gehe der Ausbruch in den USA womöglich auf
einen einzelnen Eintrag zurück, erklärt Beer. Wie diese Übertragung vom
Wildvogel auf eine Kuh ablief, etwa über verunreinigtes Futter, kontaminierte
Einstreu oder direkten Kontakt, sei unklar. Doch eines wissen Forscher
inzwischen: "Gelangt das Virus ins Euter, vermehrt es sich dort sehr stark",
sagt Beer.

Das liege auch an den Rezeptoren im Euter: Anders als etwa die in der
Rindernase seien sie perfekte Andockstellen für die H5N1-Variante - ähnlich wie
die Rezeptoren bei Vögeln. "Das Euter ist für das Virus quasi ein Huhn." Über
verunreinigtes Melkgeschirr gelange der Erreger zu anderen Milchkühen, durch
Transporte in immer neue Betriebe und Regionen.

Wie ist die Situation in den USA zu beurteilen?

Noch lasse sich nicht absehen, ob die schleppend beginnenden Gegenmaßnahmen
in den USA rechtzeitig greifen. "Es kann sein, dass der Spuk in einiger Zeit
vorbei ist", sagt Beer. "Wenn das Virus inzwischen nicht schon lernt, effizient
über die Nase von Rind zu Rind weitergegeben zu werden." In diesem Fall lasse
sich eine weitere Verbreitung nur noch schwer stoppen.

Bei Tests und Schutzmaßnahmen existiere ein Flickenteppich an Regeln, ein
umfassendes, USA-weites gezieltes Suchen nach infizierten Rindern und strenge
Sperrmaßnahmen gebe es bisher nicht. "In Europa wäre das einheitlicher", sagt
Beer. Auch gebe es hier - ein Erbe aus der Zeit der Rinderseuche BSE - quasi das
"gläserne Rind", also eine durchgängige Nachverfolgbarkeit aller Rinder mit
einer eindeutigen Kennzeichnung und entsprechende Datenbanken. In den USA fehle
das.

Die US-Behörden scheinen weit davon entfernt, die Verbreitung der
Vogelgrippe unter Rindern schnell zu stoppen. Zwar seien erste
Überwachungsprogramme für mehr Tests initiiert worden, allerdings meist auf
freiwilliger Basis, sagt Beer. "So etwas klappt eigentlich nur, wenn es
verpflichtend ist. Sonst bleiben Lücken."

Liegen die eigentlichen Zahlen noch höher?

Aus der Analyse von Milchproben und anderen Hinweisen lasse sich schließen,
dass es eine Dunkelziffer nicht erfasster Fälle gebe, so Beer. Viele
US-Rinderfarmen sind riesig, teils werden deutlich mehr als 1.000 Tiere
gehalten. Insgesamt gibt es darum nur rund 26.000 Milchviehbetriebe, wie Beer
sagt. Zum Vergleich: Allein in Bayern seien es auch etwa 26.000, deutschlandweit
rund 50.000.

In einem Massenbetrieb fallen Infektionen nicht unbedingt sofort auf
- und Farmer sind nicht erpicht darauf, im Zuge von Nachweisen
womöglich den ganzen Betrieb lahmgelegt zu bekommen. Bei möglichen Übertragungen
auf Menschen kommt hinzu, dass in den USA regional viele Illegale in Betrieben
arbeiten - die auch mit entsprechenden Symptomen einen Arztbesuch eher meiden.

Können sich Menschen bei Rindern anstecken?

Drei Fälle bei Menschen wurden laut CDC im Kontext des Ausbruchs in
US-Milchviehhaltungen bisher erfasst. Jedes Mal sei eine Bindehautentzündung
eines der Symptome gewesen, erklärt Beer. "Der Mensch hat die
Vogelgrippe-Rezeptoren im Auge." Fasst sich ein Arbeiter zum Beispiel beim
Melken ans Auge, kann der Erreger andocken.

Pasteurisierte Milch gilt als unbedenklich, wie gerade eine im "Journal of
Virology" vorgestellte Studie bestätigte. In 20 Prozent der etwa 300
untersuchten pasteurisierten Milchprodukte aus 132 US-Verarbeitungsbetrieben
wurden demnach nicht-infektiöse Spuren des viralen Erbguts gefunden, infektiöses
Virus in keinem einzigen Fall.

Eine Infektion über Rohmilch gilt hingegen als möglich. Farm-Katzen haben
sich in den vergangenen Monaten schon häufig über aufgeschleckte Rohmilch
angesteckt. In zahlreichen der erfassten Fälle starben sie, wie Beer sagt. "Das
Virus infiziert bei ihnen meist auch das Gehirn." Ganz neu sei diese Erkenntnis
nicht: Auch in Polen und Südkorea habe es schon Vogelgrippe-Ausbrüche bei Katzen
gegeben - immer über kontaminierte Nahrung, bisher nicht von Katze zu Katze.

Anders ist das bei bestimmten Meeressäugern sowie für die Pelztierzucht
gehaltenen Arten wie Nerz und Polarfuchs. Für Meeressäuger gelten Übertragungen
zwischen Artgenossen als hoch wahrscheinlich, bei Tieren in Pelztierfarmen als
weitgehend gesichert, wie Beer sagt.

Auch bei ihnen stehen neurologische Symptome, also Hirnschäden, im
Vordergrund. Der Anteil tödlich erkrankter Tiere ist hoch. "Bei den sehr
seltenen Fällen beim Menschen gibt es solche neurologischen Symptome nicht,
sondern eher die für eine Grippe klassischen Atemwegsprobleme."

Wie groß ist das Risiko für Deutschland?

Bisher sind H5N1-Infektionen nur von Rindern in den USA bekannt. Da weder
Kühe noch Rohmilch nach Europa importiert würden, sei das Risiko einer
Einschleppung gering, sagt Beer. Von importiertem Rindfleisch gehe nach
derzeitigem Stand keine Gefahr aus.

Versuche am FLI ergaben allerdings, dass auch die in Deutschland kursierende H5N1-Form Rinder infizieren kann. Das Virus habe sich im Euter vermehrt und Kühe
hätten Krankheitssymptome wie Milchbildungsrückgang, Veränderung der
Milchkonsistenz und Fieber gezeigt, teilte das Institut kürzlich mit. Die
Risikoeinschätzung - sehr gering - ändere sich dadurch nicht.

In diese Einschätzung spielt hinein, dass es - anders als etwa in Nord- und
Südamerika - derzeit keine größere H5N1-Welle unter Wildvögeln in Europa gibt.
"Es ist so ruhig wie seit Jahren nicht mehr", sagt Beer. "Seit einigen Wochen
nimmt die Zahl der Nachweise ganz deutlich ab."

Womöglich habe sich vorerst eine Art Herdenimmunität aufgebaut. Ein
Sommerloch bei den Infektionen war lange Zeit typisch für die Vogelgrippe - bis
die Klade 2.3.4.4b ihren Zug um die Welt begann. Doch irgendwann werde die
Population wieder empfänglich für eine nächste Welle sein, so Beer.

Was bedeutet 2.3.4.4b in der Summe für den Menschen?

So viel Tierleid mit 2.3.4.4b verbunden ist - für Menschen ist die Variante
zunächst harmloser als zuvor kursierende H5N1-Formen. Der Erreger sei stark an
Vögel angepasst, erklärt Beer. Seit 2016 habe es durch Viren dieser Klade
weniger als 20 erfasste und meist milde Infektionen bei Menschen gegeben - bei
anderen Varianten zuvor seien es hunderte gewesen.

Das Virus an sich ist also harmloser für Menschen - und doch auch nicht,
weil es schon wegen der schieren Masse an Infektionen in Vogelpopulationen öfter
den Weg zu Säugetieren findet. Die können eine Art "Mischbatterie" sein, wie
Beer erklärt: Sei etwa ein Nerz oder ein Schwein mit verschiedenen
Influenza-A-Formen infiziert, könne ein neuer, für Menschen gefährlicherer
Erreger entstehen.

"Es ist schon sehr wichtig, dass man H5N1 auf dem Schirm hat", so Beer. Auf
den Risikolisten für eine Vogelgrippe-Zoonose liege der Erreger aber "nur" im
Mittelfeld: Von H7N9, das in seltenen Fällen bereits von Mensch zu Mensch
übertragen wurde, und H5N6, das ebenfalls bereits bei Menschen auftrat, sowie
einigen Schweineinfluenza-Viren gehe nach aktueller Einschätzung ein größeres
zoonotisches Risiko aus.

Wo ist scharfe Beobachtung nötig?

"Pelztierfarmen sind ein Faktor, der lange viel zu wenig im Blick war",
betont Beer. Analysen aus China zeigten, dass unter den Tieren eines solchen
Betriebes alle möglichen Influenzaviren kursieren können - was zu einem
potenziell gefährlichen Gemisch führen könnte.

In Dänemark und den Niederlanden sei die Haltung nach zahlreichen
Corona-Infektionen bei Pelztieren im Zuge der Pandemie noch immer gestoppt, in
Deutschland gebe es ohnehin keine. In Finnland würden solche Farmen nach den
Problemen mit Sars-CoV-2 und H5N1 umfassend überwacht.

"Doch es gibt viele Pelztiere in Ländern mit sehr wenig Überwachung", gibt
Beer zu bedenken. China zum Beispiel produziere einige Millionen Nerzfelle
jährlich. Hinzu kämen unter anderem Millionen Marderhunde und Füchse. Auch
Belarus sei ein großer Produzent ohne transparente Überwachung.

Was würde uns bei einem Sprung auf den Menschen erwarten?

Die genauen Eigenschaften eines möglichen Erregers lassen sich nicht
voraussagen. Klar ist aber: Es wäre nicht die erste große Influenza-A-Pandemie.
Insgesamt vier gab es seit 1900: 1918/19 die Spanische Grippe (H1N1), auf die
1968 die Hongkong-Grippe (H23N2), 1977 die Russische Grippe (H1N1) und 2009/10
die Schweinegrippe (H1N1) folgten.

Wäre es wie bei der Corona-Pandemie?

"Die Situation ist eine ganz andere als bei Sars-CoV-2", erläutert Beer.
Influenza-Stämme werden schon lange überwacht. Vorbeugend würden regelmäßig
Kandidaten-Impfstoffe für eine schützende Impfung gegen potenziell eine Pandemie
verursachende Varianten festgelegt. Ein solcher Impfstoff sei kürzlich von 15
EU-Ländern geordert worden. Vorsorglich geimpft werden damit bereits Mitarbeiter
finnischer Pelztierfarmen.

Generell gilt, anders als beim Corona-Virus: "Man weiß schon sehr lange, was man machen muss für einen Influenza-Impfstoff", sagt Beer. Klassisch erfolge die
Produktion in Hühnereiern, inzwischen werde auch an mRNA-Impfstoffen gearbeitet.
Im Falle des Falles könnte es also schnell gehen mit einer Massenproduktion
schützender Impfstoffe./kll/DP/zb

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