27.06.2024 12:00:22 - dpa-AFX: EM 2024/Neuer, Müller, Kroos: Das letzte Hurra der Rio-Champions

HERZOGENAURACH (dpa-AFX) - Thomas Müller stand auf dem kleinen Podest und
fühlte sich "wie bei einer Pferde-Auktion". Alle Blicke auf ihn, ein flotter
Spruch hier, ein Augenzwinkern da. Müller war nach seinen EM-Minuten gegen
Schottland in seiner Münchner Fußball-Arena in seinem Element. Als würde er
jeden Moment genießen. Es ist, als wüsste Müller, dass für ihn bei der
Nationalmannschaft wohl nach der EM mit 34 Jahren sinnbildlich der Hammer fällt.

Manuel Neuer (38) rutschte die Nachricht sogar fast schon selber raus. "Das
kann ich jetzt noch nicht verraten", sagte die ewige deutsche Nummer eins zu
ihrer Zukunft im Nationaltrikot. Neuer hat offenbar schon eine Entscheidung
getroffen. Nach der EM werde er sich "Gedanken machen", schob der Teamsenior
einschränkend hinterher. Nur Toni Kroos (34) - als Dritter im Bunde der so
unterschiedlichen letzten verbliebenen Rio-Weltmeister im Kader von Julian
Nagelsmann - hat reinen Tisch gemacht. Karriereende mit EM-Abpfiff.

Aber bitte nicht schon am Samstag (21.00 Uhr/ZDF/Magenta TV) in Dortmund
nach dem Achtelfinale gegen Dänemark. Das wäre zwei Wochen zu früh. Als
Zielpunkt haben sich alle Champions von 2014 den 14. Juli gesetzt - das
EM-Finale in Berlin. Zehn Jahre und einen Tag nach der magischen Nacht im
Maracana. Bestenfalls erst dann. Aber spätestens dann endet ziemlich sicher eine
Ära in der DFB-Historie. Zusammen 364 Länderspiele für Deutschland, drei goldene
WM-Medaillen, dazu in Summe zehn Champions-League-Siege, je fünf für die Bayern
und fünf für Real Madrid. Eine Vielzahl an nationalen Titeln. Drei
Welt-Karrieren eben.

Nagelsmann will "Lösungen finden"

Offiziell ist bis auf die Personalie Kroos noch nichts. Aber Bundestrainer
Nagelsmann hat schon angedeutet, dass Richtung WM 2026 in Nordamerika ein
Schnitt notwendig ist. "Für die Zukunft müssen wir Lösungen finden. Denn wir
haben den ältesten Kader. Wir werden ein paar jüngere Spieler brauchen", sagte
der Bundestrainer. Für die Heim-EM "ist es ein guter Mix", sagte Nagelsmann, der
mit 36 Jahren der jüngste Coach der EM-Historie ist.

Aber dann: Jüngere Spieler rein, ältere raus. Das klingt logisch. Und wen
sollte Nagelsmann gemeint haben außer Müller und Neuer, die Ältesten im Kader
neben dem baldigen Fußball-Ruheständler Kroos? Allenfalls noch Ersatztorwart
Oliver Baumann (34) oder Ilkay Gündogan (33), dessen Deutschland-Karriere aber
gefühlt mit diesem Turnier als Kapitän im positiven Sinne erst richtig beginnt.

Auch Rudi Völler sprach im Teamquartier in Herzogenaurach zumindest mit
Müller schon über die Zukunft. Ohne hinterher Details zu verraten. "Ich bin
gerne mal mit Manuel auf einen Kaffee zusammen, auch mit Thomas, sich zu
unterhalten über die Karriere, die er schon hat und wie es weitergeht. Beide
sind absolute Vorbilder", sagte der DFB-Sportdirektor.

Ruhestand ja, Rücktritt nein

Bei Müller ist die Sachlage eigentlich ähnlich klar wie bei Kroos. Er wird,
was das DFB-Trikot angeht, aber nie einen offiziellen Schnitt machen. Beim FC
Bayern mag sein Vertrag in einem Jahr auslaufen. Als Nationalspieler tritt man
aber nicht zurück, lautet seine Devise.

Aussortiert wurde er schon 2019 von Joachim Löw - und kam wieder zurück.
Nach dem WM-Debakel in Katar 2022 klangen seine Worte im Interview wie ein
Abschied von den Fans. Doch er kam erneut zurück. Die Heim-EM wirkt nun wie ein
letzter Bonus. Seine "Gimmick"-Minuten, wie Nagelsmann es nennt, bekam er schon
im Eröffnungsspiel gegen Schottland. Der große Traum vom ersten EM-Tor ist für
den Bayern, der 2010 und 2014 zehn WM-Tore schoss, aber noch nicht erfüllt.

Als "Schmiermittel" und "Connector" hat ihn Nagelmann im Mix der
Generationen bezeichnet. Von außen betrachtet wirkt Müller aber wie das fünfte
Rad am Wagen. Auffällig sind vor allem noch seine skurrilen Aktionen vor dem
Aufwärmprogramm. Wie vor dem Schweiz-Spiel, als er vergeblich versuchte, den
Ball bis zum Video-Würfel im Frankfurter Stadion zu dreschen. Die sportlich
relevante Hierarchie unter den Oldies verdeutlichen die bisherigen
Turnier-Minuten: Neuer 270, Kroos 257, Müller 17.

Erben stehen bereit

Neuer wird vermutlich irgendwann einen sauberen Schnitt ziehen. Ob nach der
EM, das wird sich zeigen. Acht Turniere als Nummer eins seit 2010.
EM-Rekordtorwart (18 Spiele), deutscher Rekordtorwart (122 Länderspiele). Er hat
eine Torwart-Ära geprägt und dominiert.

Sein ewiger Ersatzmann Marc-André ter Stegen steht als Nachfolger seit
langem bereit. In Alexander Nübel ist sogar dessen Erbe ausgemacht. Für Neuer
war es eine Genugtuung, nach seinem schweren Beinbruch das Comeback im DFB-Tor
geschafft zu haben. Und die nach mehreren Patzern zuletzt ziemlich lauten
Zweifel an seiner Stärke auch beim Turnier zu beseitigen.

Für Müller gibt es im offensiven Bereich schon jetzt einen reichen Fundus an jungen Optionen mit den Fußball-Zauberern Jamal Musiala und Florian Wirtz (beide
21) als Versprechen für Gegenwart und Zukunft. Beträchtlich wird die Lücke sein,
die Kroos als Ruhepol hinterlässt. Sein Comeback war Nagelsmanns Königszug im
personellen Rollenspiel.

Ein Aus gegen Dänemark? Es wäre fast schon Fußball-Blasphemie, eine Karriere so enden zu lassen. Dann schon eher gegen das große Spanien, seine
Fußball-Heimat im anschließenden Viertelfinale. Aber am allerbesten im
EM-Finale. "Natürlich wäre das fast zu kitschig, dieses Ende, aber ich würde es
nehmen", sagte Kroos. Neuer und Müller sicherlich auch./aer/DP/zb

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