04.07.2024 08:30:03 - dpa-AFX: HINTERGRUND: Baikal-Amur-Magistrale - Russlands Schienenweg gen Osten

MOSKAU (dpa-AFX) - Eine Explosion mitten in Russlands längstem Tunnel machte
im vergangenen Spätherbst Schlagzeilen. Die russische Bahn gab nur wenige
Details bekannt, doch spätestens als kurz darauf ein zweiter Güterzug in einem
Nebentunnel in Brand geriet und das russische Ermittlungskomitee ein Verfahren
wegen eines Terroranschlags einleitete, wurde klar: Russlands Angriffskrieg
gegen die Ukraine ist auch weit im eigenen Hinterland angekommen.

Genauer gesagt bei der BAM, der Baikal-Amur-Magistrale, Russlands
zweitwichtigstem Schienenweg nach der Transsib. Die mehr als 4000 Kilometer
lange Strecke verläuft von Ostsibirien bis in Russlands Fernen Osten. Der
Explosionsort im Seweromuisker Tunnel liegt etwa 5000 Kilometer von der Grenze
zur Ukraine entfernt.

Dass es einmal so weit kommen würde, war vor 50 Jahren nicht abzusehen, als
am 8. Juli 1974 das Politbüro und die sowjetische Regierung die Entscheidung zum
Bau des wichtigen Infrastrukturprojekts verabschiedeten. Die Sowjetunion galt
als zweite Supermacht neben den USA, ein Zerfall des Landes - und ein
anschließender Krieg zwischen den Nachfolgestaaten undenkbar. Die BAM sollte
vielmehr eine Absicherung der Transsib sein, die nah an der Grenze zu China
verlief - die Beziehungen damals waren nicht ganz reibungslos.

Der Plan zur Errichtung einer zweiten Eisenbahnlinie durch Sibirien nördlich vom Baikalsee ist dabei schon wesentlich älter. Schon vor der Revolution gab es
erste Ideen dazu. Sowjetdiktator Josef Stalin hatte sogar schon 100.000
Strafgefangene in Arbeitslager (Gulag) entlang der künftigen Strecke schicken
lassen, doch wegen des Beginns des Zweiten Weltkriegs wurde das Projekt bis auf
eine kleine Teilstrecke am Pazifischen Ozean nicht verwirklicht. Die bereits
verlegten Gleise wurden teilweise wieder abgerissen und an anderen Stellen
verwendet.

Doch Mitte der 1970er Jahre war die Strecke wieder aktuell. Die
Sowjetführung machte sogar ein Prestigeprojekt daraus, um nach dem Wettlauf ins
All einmal mehr die Leistungsfähigkeit des Sozialismus zu demonstrieren.
Begleitet von großangelegter Propaganda wurde die BAM zu einer Super-Baustelle
über Tausende Kilometer. Die kommunistische Jugendorganisation Komsomol warb
Zehntausende junger Menschen für den Bau an. Gelockt wurden sie mit
Aufstiegsmöglichkeiten, hohen Löhnen und Erzählungen vom Abenteuer und Romantik
an der Trasse. So schrieb der im Ostblock bekannte US-Rock- und Folksänger Dean
Reed ein Lied über die BAM.

Daneben wurden aber viele Arbeiter auch einfach zu ihrem neuen Einsatzort
befohlen - insbesondere bei den Eisenbahntruppen, denen die schwierigsten
Abschnitte im Fernen Osten zugeordnet waren. Mit den widrigen klimatischen
Bedingungen hatten alle zu kämpfen. Speziell die harten langen und schneereichen
Winter, in denen die Temperaturen bis zu minus 58 Grad abgefallen sein sollen,
machten den Bauarbeitern und später den Eisenbahnern beim Betrieb zu schaffen.
Auch Lawinen waren in den Bergen eine Gefahr.

Das ganze Land baute an der BAM mit, ja selbst aus anderen Ostblockstaaten
kamen viele Arbeiter. Die DDR entsandte Brigaden über den kommunistischen
Jugendverband FDJ in die Sowjetunion. Anlagen und Gerät für den Bau wurden
wiederum im kapitalistischen Ausland gekauft, darunter auch etwa 10.000 Lkw aus
Deutschland.

Tatsächlich gelang es, das aus technischer Sicht hoch komplizierte Projekt
praktisch pünktlich abzuschließen. Im Herbst 1984 wurden Ost- und Westteil der
Trasse bei der Station Balbuchta in der Region Transbaikalien miteinander
verbunden. Mehr als 3000 Brücken hatten die Arbeiter gebaut, riesige Ströme wie
die Angara, die Lena und den Amur gequert, lange Tunnel durch Hochgebirge
gegraben. Bei klirrender Kälte rammten sie Pflöcke in den Permafrostboden, im
Sommer trotzten sie der Mückenplage in den Sümpfen.

Doch durchgehend befahrbar war die BAM trotzdem erst 1989. Sie wurde zur
Unzeit fertig, denn die Sowjetunion und ihr Nachfolger Russland taumelten in
eine tiefe Krise. Das Großprojekt Nummer 1, für das Parteichef Leonid Breschnew
seinerzeit weder Kosten noch Ressourcen scheute, war auf einmal
überdimensioniert und scheinbar unnütz. Die Erschließung der Rohstofflager
Ostsibiriens stockte wegen Geldmangels. Der Traum von einem neuen Boom, einer
Industrialisierung Ostsibiriens und wachsenden Städten entlang der BAM - er war
ausgeträumt.

In den 1990er Jahren brachte die BAM der russischen Eisenbahn riesige
Verluste ein, die teilweise im dreistelligen Millionenbereich pro Jahr lagen.
Nur wenige Züge pro Tag fuhren über die großteils noch einspurige und nicht
elektrifizierte Strecke. Viele Ortschaften entlang der Strecke verödeten. Die
Menschen flüchteten vor Arbeits- und Perspektivlosigkeit.

Und doch gaben die Eisenbahner nicht auf. So gelang es ihnen, 2003 den
buchstäblich größten Brocken auf der Strecke zu durchbrechen: Das Seweromuisker
Gebirge wurde mit dem gleichnamigen Tunnel durchstoßen. Technisch ist der Tunnel
eine Meisterleistung: Mehr als 15 Kilometer lang durch schwierigste
Gesteinsschichten und in erdbebengefährdetem Gebiet wurde er gegraben. Damit
konnte eine mehr als 60 Kilometer lange Umgehungsstrecke ersetzt werden. Die
galt wegen ihrer Serpentinen und teilweise großen Gefälle als so gefährlich,
dass die Lokführer einer Brücke sogar den Namen Teufelsbrücke verpassten.

Und auch die Strecke erwachte langsam wieder zum Leben. Die Nachfrage nach
russischen Rohstoffen in Asien stieg. Vor allem Kohle wurde auf der Route
befördert, neue Lagerstätten an die Strecke angeschlossen. Nach 2010 stieß die
BAM schnell an ihre Kapazitätsgrenze von 55 Millionen Tonnen Gütern pro Jahr.
Ein Ausbau musste her und wurde beschlossen. Zeitweise gab es sogar Pläne für
den Bau einer privaten Konkurrenzbahn, doch am Ende siegten strategische
Erwägungen. Schließlich wird in Moskau auch stets auch in militärischen
Dimensionen gedacht.

So hat der von Kremlchef Wladimir Putin befohlene Krieg gegen die Ukraine
die Tendenz beschleunigt. Während der Westen Sanktionen gegen Moskau verhängt
hat, nehmen China und Indien im Osten dankend die verbilligten
Rohstofflieferungen - speziell Öl und Kohle - an. Vieles wird auf dem
Schienenweg zu den russischen Pazifikhäfen gebracht, wo es dann weiter
verfrachtet wird. Auf der Gegenspur ist militärisches Gerät Richtung Ukraine
unterwegs.

Die Pläne für die BAM sind daher gigantisch: Bis Jahresende soll die Strecke auf eine Kapazität von 180 Millionen Tonnen ausgebaut werden. Bis 2030 auf 240
Millionen Tonnen und bis 2040 gar auf 280 bis 300 Millionen Tonnen. Und erneut
beordert Russland Studenten zum Ausbau der Strecke an die BAM.

Wegen der fehlenden Gastarbeiter aus den zentralasiatischen Republiken
belebt die Bahn zudem eine weitere fragwürdige Praxis aus Sowjetzeiten wieder:
Die Gefängnisbehörde bietet Häftlinge für den Bau an. Auch wenn die Bahn
vernünftige Arbeitsbedingungen verspricht, schließt sich damit gewissermaßen der
Kreis der BAM, die von Gulag-Arbeitern begonnen wurde./bal/DP/zb

--- Von André Ballin, dpa ---

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