22.05.2024 12:00:04 - dpa-AFX: HINTERGRUND: Cannabis und Hirnchemie Jugendlicher - wie groß sind die Risiken?

BERLIN (dpa-AFX) - Cannabis schadet den noch nicht ausgereiften Gehirnen
Jugendlicher, das haben Studien schon mehrfach gezeigt. Der Zusammenhang
zwischen jugendlichem Cannabiskonsum und psychotischen Störungen könnte sogar
noch stärker sein als bisher angenommen, ergab nun eine im Fachjournal
"Psychological Medicine" vorgestellte Studie. Die meisten Jugendlichen, bei
denen eine psychotische Störung diagnostiziert wird, haben demnach eine
Vorgeschichte mit Cannabiskonsum.

In aller Regel sei bei einer psychotischen Störung die Wahrnehmung
beeinträchtigt, erklärt Rainer Thomasius, Leiter des Deutschen Zentrums für
Suchtfragen des Kindes- und Jugendalters am Universitätsklinikum
Hamburg-Eppendorf. Das eigene Körpererleben sei verändert, auch visuelle oder
akustische Halluzinationen seien möglich. Konzentrations- und Lernfähigkeit
seien eingeschränkt, das Empfindungsvermögen bei Freude oder Trauer abgestumpft.
Hinzu komme oft das Gefühl, von Umgebungsreizen völlig überflutet zu werden.

Eine psychotische Störung könne bei Drogenabstinenz binnen weniger Wochen
komplett ausheilen - allerdings bestehe lebenslang ein höheres Risiko, bei
erneutem Konsum wieder in eine zu rutschen. Generell länger und auch stärker
seien die Auswirkungen bei Schizophrenie, einer speziellen Form der
psychotischen Störung, erklärt Kinder- und Jugendpsychiater Thomasius. Das
Gefühl, bedroht zu sein - etwa durch enge Angehörige - könne bei einer
Schizophrenie im Extremfall tödliche Attacken zur Folge haben.

Frühere Forschungsarbeiten stützten sich weitgehend auf ältere Daten, als
Cannabis noch weniger stark war als heute, nehmen die Forschenden in Kanada als
Grund für eine mögliche bisherige Unterschätzung an. Der durchschnittliche
Gehalt an Tetrahydrocannabinol (THC) bei illegalem Cannabis stieg in Kanada
demnach von etwa einem Prozent im Jahr 1980 auf 20 Prozent im Jahr 2018. "Neue
Arten von Cannabisprodukten sind ebenfalls beliebter geworden, darunter
Cannabisextrakte, die einen THC-Gehalt von über 95 Prozent erreichen können."

Derlei Produkte seien in Deutschland noch nicht erhältlich, sagt Thomasius.
Der Gehalt hierzulande liege bei illegalem Cannabis bei etwa 15 Prozent. Mit den
professionellen Gerätschaften der Anbauvereinigungen, die seit Anfang April
legal Cannabis produzieren dürfen, seien sicher auch höhere Gehalte möglich.
Zwar soll der THC-Anteil nach dem Cannabis-Gesetz bei der Abgabe der
Vereinigungen an 18- bis 21-Jährige 10 Prozent nicht übersteigen - doch
umfassende Kontrollen sind für Kommunen kaum umzusetzen. Gefordert seien sie
laut Gesetzestext ohnehin nur "gelegentlich", sagt Thomasius.

Problematisch ist der gegenüber den Joints der 68er-Jahre dramatisch
angestiegene THC-Gehalt, weil Konsumenten häufig eine ähnliche Menge Cannabis
wie zuvor rauchen - dabei aber weitaus mehr THC aufnehmen als ein Nutzer einst.
Die Hanfpflanze Cannabis sativa enthält insgesamt mehr als 60 Cannabinoide, von
denen Tetrahydrocannabinol aber als stärkste psychoaktive Substanz eingestuft
wird. Im ganzen Körper gibt es Rezeptoren, an denen körpereigene Cannabinoide,
aber auch THC andocken.

Dass THC gerade das Gehirn Jugendlicher beeinflusst, ist Experten zufolge
biologisch plausibel: In der Pubertät ist das Gehirn eine Art Großbaustelle und
besonders leicht aus der Balance zu bringen. Angenommen wird dem Forschungsteam
in Kanada zufolge, dass THC über das körpereigene Cannabinoid-System unter
anderem Nervenfaser-Verknüpfungen und die Entwicklung der weißen Substanz im
Gehirn beeinflusst.

Zu den bekannten Folgen regelmäßigen Cannabis-Konsums in der Pubertät gehöre neben dem höheren Risiko für Psychosen ein um bis zu etwa zehn Punkte sinkender
IQ-Wert, erklärt Thomasius. "Wenn ein ohnehin nicht so hoher IQ von 90 auf 80
sinkt, dann bedeutet das eine Lernstörung." Auch Auffassungsgabe und
Konzentrationsfähigkeiten litten. Im Gehirn könnten bei Cannabis-Konsum in der
Pubertät bis zu gut ein Drittel der funktionsfähigen Verbände im Frontalhirn
verloren gehen, das zuständig für Funktionen wie Denken, Vernunft und
Emotionsregulation ist. Auch sei das Risiko für Angststörungen und Depressionen
höher.

Doch nicht genug damit, dass sich Konsumenten ihr eigenes Leben und das
ihrer Familie vermiesen können - auch andere Menschen sind betroffen, etwa durch
die eingeschränkte Verkehrstüchtigkeit. "In den USA hat sich die Zahl schwerer
Verkehrsunfälle unter Cannabiseinfluss schon verdoppelt bis verzehnfacht seit
der Legalisierung dort", sagt Thomasius.

Jugendlichen seien solche Risiken nicht wirklich bewusst, sagt der
Mediziner. "Das wird bisher überhaupt nicht angemessen kommuniziert." Analysen
zeigten, dass die Risikowahrnehmung für Gesundheitsschäden durch Cannabis-Konsum
in den USA und Europa generell abnehme. Bei Jugendlichen komme hinzu, dass sie
allgemein nicht so viel Selbstfürsorge und ein geringeres Risikobewusstsein
hätten. Und dass Erwachsene etwas nutzen dürfen, Jugendliche aber die Finger
davon lassen, habe noch nie funktioniert.

Die Cannabis-Legalisierung bedeute Verharmlosungseffekte und setze völlig
falsche Signale, betont Thomasius daher. "Wir können jetzt schon voraussagen,
dass die Psychose-Inzidenzen ansteigen werden." Und jeder solche Fall bedeute
ein Wiederholungsrisiko, wenn nicht lebenslang auf alle psychoaktiven Substanzen
verzichtet werde. "Wenn einmal eine Psychose aufgetreten ist, ist die
Vulnerabilität bei Drogenkonsum erhöht."

André McDonald und Susan Bondy von der Universität Toronto hatten für ihre
Studie bevölkerungsbasierte Erhebungsdaten aus den Jahren 2009 bis 2012 mit
Aufzeichnungen von Gesundheitsleistungen bis zum Jahr 2018 verknüpft. Die mehr
als 11 000 einbezogenen Teilnehmer waren zu Studienbeginn zwischen 12 und 24
Jahre alt und hatten bis dahin keine psychotische Störung.

Der Auswertung zufolge berichteten fünf von sechs Jugendlichen (12 bis 19
Jahre), die im Studienverlauf wegen einer psychotischen Störung in ein
Krankenhaus eingeliefert wurden oder eine Notaufnahme aufsuchten, über
Cannabiskonsum. Dabei habe es womöglich noch eine Untererfassung gegeben, weil
der Freizeit-Cannabiskonsum da noch für alle Altersgruppen in Kanada illegal
gewesen sei, was die Angaben zum eigenen Cannabiskonsum beeinflusst haben
könnte. Bei jungen Erwachsenen (20 bis 33 Jahre) wurde kein deutlicher
Zusammenhang gefunden.

Es gelte weiterhin, dass die überwiegende Mehrheit der Jugendlichen, die
Cannabis konsumieren, keine psychotische Störung entwickelt, erklärte McDonald.
Jugendliche, die Cannabis konsumieren, hätten jedoch ein 11-fach höheres Risiko
für eine psychotische Störung als Jugendliche, die keines nutzen.

Zu bedenken ist dabei, dass die Analyse wie vorhergegangene epidemiologische Studien eine Korrelation zeigt, keinen kausalen Zusammenhang. Das heißt, ein
umgekehrter Zusammenhang kann nicht ausgeschlossen werden: Jugendliche mit
psychotischen Symptomen könnten zum Beispiel vor der klinischen Diagnose eine
Selbstmedikation mit Cannabis begonnen haben.

Auch andere potenziell wichtige Faktoren wie die Genetik oder womöglich
durchlebte Trauma in der Vergangenheit wurden in der Studie nicht
berücksichtigt. Tatsächlich bestimme die Genetik die Anfälligkeit für Psychosen
sehr stark, erklärt Thomasius. Cannabis-Konsum sei bei einer solchen familiären
Vorbelastung dann der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringe.

Cannabis ist in Deutschland seit 1. April für Erwachsene freigegeben. Ab dem 1. Juli darf die Droge laut Cannabis-Gesetz in speziellen Vereinen
gemeinschaftlich angebaut und an Vereinsmitglieder abgegeben werden. Zuhause
dürfen drei Pflanzen angebaut werden. Experten gehen davon aus, dass Teenager
nun deutlich leichter an Cannabis kommen als zuvor./kll/DP/jha

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