21.05.2024 12:32:17 - dpa-AFX: HINTERGRUND/Iran nach Raisis Tod: Zwischen Machtkampf und nationaler Versöhnung

TEHERAN (dpa-AFX) - In den vergangenen Jahren befasste sich die Führung im
Iran im Hintergrund intensiv mit einer Nachfolgefrage: Wer eines Tages
Staatsoberhaupt und Religionsführer Ajatollah Ali Chamenei ersetzen wird. Der
mittlerweile 85-Jährige gilt immer noch als mächtigster Mann in dem Land. Der
plötzliche Tod des Präsidenten Ebrahim Raisi bei einem Hubschrauberabsturz am
Wochenende würfelt diese Überlegungen nun durcheinander - denn Raisi galt auch
als möglicher Nachfolger Chameneis. Beobachter erwarten in der anstehenden
Präsidentenwahl nun zumindest eine Generalprobe, bei der die verschiedenen
politischen Fraktionen ihre Stärke demonstrieren werden. Ein Überblick über die
Politiker, die in dem Land, in dem zuletzt moderate Stimmen immer stärker
ausgegrenzt wurden, nach vorn streben.

Mohammed Bagher Ghalibaf - General mit großen Ambitionen

Mohammed Bagher Ghalibafs Ambitionen für das Präsidentenamt sind kein
Geheimnis. Der Parlamentspräsident und frühere General der mächtigen
Revolutionsgarden begann seine politische Karriere vor knapp 20 Jahren als
Bürgermeister der Hauptstadt Teheran. Noch heute erinnern sich viele Bewohner
der Millionenmetropole an seine effiziente Gangart. Dabei hatte der 62-Jährige
eigentlich andere Pläne. Kurz zuvor war er als Kandidat bei der
Präsidentschaftswahl gescheitert, wie auch acht Jahre später. Seine Kandidatur
2017 zog er schließlich zurück.

Kritikern des Systems und moderaten Politikern dürfte seine unterstützende
Rolle bei der Niederschlagung der Studentenproteste von 1999 in seiner damaligen
Funktion als Kommandeur noch lebendig in Erinnerung sein. Viele Experten sahen
ihn bereits vor Raisis Tod als nächsten Präsidenten. Ghalibaf gilt als
konservativer Opportunist, mit Unterstützung der technokratischen Fraktion der
Revolutionsgarden, Irans Elitestreitmacht.

Bei der diesjährigen Parlamentswahl erlitt Ghalibaf allerdings eine
Niederlage in Teheran und zog nur auf Platz vier der Liste ins Parlament ein.
Seine erzkonservativen Konkurrenten dürften einen Moment der Schwäche wittern
und im Hintergrund bereits Bündnisse schmieden, um an die Spitze zu drängen. An
Ghalibafs Machtstreben dürfte dies allerdings nichts ändern.

Modschtaba Chamenei - der geheimnisvolle Sohn

Irans politisches System vereint seit der Islamischen Revolution von 1979
republikanische und theokratische Züge. In den vergangenen Jahrzehnten regierten
abwechselnd moderate und konservative Präsidenten. Freie Wahlen gibt es nicht:
Das Kontrollgremium des Wächterrats prüft Kandidaten stets auf ihre ideologische
Eignung. Eine grundsätzliche Kritik am System wird nicht geduldet, wie die
blutige Niederschlagung der Protestwellen in den vergangenen Jahren zeigte.
Viele Menschen im Land glauben daher schon lange nicht mehr an Veränderungen von
innen.

Religionsführer Chamenei dürfte seinen harten Kurs fortsetzen. Um sein
politisches und religiöses Erbe ranken sich viele Gerüchte und Spekulationen.
Experten sprechen in dem Zusammenhang auch vom klassischen Nachfolgedilemma.
Wenn der Machthaber einen Nachfolger ernennt, bestehe die Gefahr, dass der
Herrscher noch während seiner Amtszeit an Macht und Einfluss verliert, weil sich
andere Kräfte bereits an der neuen Führungsperson orientieren. Bestimme man
hingegen niemanden, besteht die Gefahr verschärfter Konflikte.

Ein Name, der in dem Zusammenhang oft erwähnt wird, ist Modschtaba, der
zweitälteste Sohn Chameneis. Wenig ist bekannt über den 55-Jährigen, der die
Öffentlichkeit scheut. Viele Iranerinnen und Iraner glauben aber, dass er
bereits eine große Rolle im Hintergrund spielt. Dass er eines Tages zum
Religionsführer bestimmt wird, halten Experten jedoch für unwahrscheinlich. Die
Generation der Revolutionäre von 1979 hatte eine Monarchie gestürzt. Es ist kaum
vorstellbar, dass Chamenei ein dynastisches Modell zur Machtübergabe
unterstützen würde.

Hassan Ruhani - Raisis Tod als Chance für "nationale Versöhnung"?

Obwohl Hassan Ruhani im Westen oft als moderater Politiker des Reformlagers
gesehen wird, ist er ein Konservativer im klassischen Sinne. Viele Menschen im
Iran, besonders aus der älteren Generation, verbinden mit ihm Hoffnung. Es war
seine Regierung, die 2015 mit dem Atomdeal von Wien für Aufbruchsstimmung
sorgte. Ruhani löste auch das Kapitel der umstrittenen Präsidentschaft von
Mahmud Ahmadinedschad ab, der jüngst wieder in der Öffentlichkeit stand und
damit Fragen über ein Comeback auslöste.

Auch andere moderate Politiker wie Mohammed Chatami oder etwa der frühere
Außenminister Mohammed Dschawad Sarif wurden durch die Machtelite in den
vergangenen Jahren immer weiter an den Rand gedrängt. Nicht einmal für den
sogenannten einflussreichen Expertenrat, der im Todesfall die Nachfolge
Chameneis bestimmt, durfte der 75 Jahre alte Ruhani dieses Jahr kandidieren.
Vielen jungen Menschen scheint dies inzwischen egal zu sein: Sie lehnen auch die
moderaten Politiker als Männer des Systems ab und fordern gravierende
Veränderungen oder gar einen Sturz des gesamten islamischen Herrschaftssystems.

Wer am Ende zum Präsidenten gewählt wird oder den Religionsführer beerbt,
sie alle benötigen die Unterstützung der mächtigen Revolutionsgarden. Diese
gelten nicht nur als die zentrale militärische Macht im Iran, sondern auch als
Wirtschaftsimperium, mit Beteiligungen unter anderem an Hotelketten,
Mobilfunkunternehmen und Fluglinien. Angesichts der wenigen konservativen
Optionen für Irans Staatsführung sagen einige gut informierte Kreise in Teheran,
dass vielleicht doch ein moderater Kandidat für die Präsidentschaftswahl Ende
Juni zugelassen wird -ganz im Sinne einer "nationalen Versöhnung"./arb/DP/ngu

--- Von Arne Bänsch, dpa ---

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