10.07.2024 07:22:19 - dpa-AFX: VERMISCHTES/Keine Geburtsurkunde: Millionen Afrikaner ohne legale Identität

LUANDA (dpa-AFX) - Dass ein Baby keine Geburtsurkunde erhält, ist in
Deutschland nahezu undenkbar. In vielen Ländern Afrikas ist es jedoch gang und
gäbe: Nur jedes zweite Kind unter fünf Jahren ist nach Angaben des
UN-Kinderhilfswerks Unicef in Afrika südlich der Sahara offiziell registriert.
Das hat schwerwiegende Folgen für Bildung, Gesundheitsfürsorge,
Beschäftigungsaussichten und Menschenrechte.

Afrika mit seinen rund 1,3 Milliarden Menschen gilt als Kontinent mit der
jüngsten Bevölkerung. Jede dritte Person in den 46 Ländern südlich der Sahara
ist zwischen 10 und 24 Jahre alt. Gleichzeitig wächst die Bevölkerung in der
Region am schnellsten weltweit. Bis 2050 werden hier laut UN-Projektionen 2,1
Milliarden Menschen leben - viele Millionen davon ohne legale Identität.

Am schlimmsten betroffen sind Äthiopien und Somalia: Hier haben laut Unicef
nur drei Prozent aller Kinder unter fünf Jahren eine Geburtsurkunde. In Sambia
sind lediglich 14 Prozent registriert, während in Tansania, Angola und im Tschad
nur etwa jedes vierte Baby eine Geburtsurkunde besitzt. In Uganda und im
Südsudan besitzt nur etwa jedes dritte Kind das wichtige Dokument.

"Eine Geburtsurkunde gibt einem Kind eine legale Existenz, einen offiziellen Namen, eine Nationalität, eine Lebensgrundlage. Ohne Geburtenregistrierung ist
es von Beginn des Lebens an benachteiligt", sagt Amandine Bollinger, die
Leiterin für Kinderschutz von Unicef in Angola.

Schlechter Start ins Leben

Die erste Folge sei oft, dass ein Baby ohne Geburtsurkunde keine
Schutzimpfungen bekomme, so Bollinger. Ein schlechter Start ins Leben. Kinder -
und später Erwachsene - ohne legale Identität können nicht nachweisen, wer sie
sind oder wie alt sie sind. Sie können kein Konto eröffnen, ihr Wahlrecht
ausüben, Eigentum erwerben, ein Erbe antreten oder sich auf einen Job im legalen
Arbeitsmarkt bewerben. Sie sind nicht vor Menschenhandel oder Kinderheirat
geschützt und in Gefahr, als Kindersoldaten missbraucht zu werden.

Die niedrige Quote an Geburtenregistrierungen hat zahlreiche Ursachen: In
Afrika finden Geburten hauptsächlich zu Hause statt, oft in abgelegenen
ländlichen Gegenden. Viele Eltern sind nicht im Besitz der notwendigen
Dokumente, um eine Geburtsurkunde zu beantragen. In manchen Fällen leugnen
Männer ihre Vaterschaft oder sind nicht präsent. Dazu kommt, dass zahlreiche
Mütter aufgrund des niedrigen Bildungsniveaus gar nicht wissen, dass ihr Baby
registriert werden muss.

Wer keinen Ausweis hat, kommt in keiner Statistik vor. Djanina Baptista, die leitende Gynäkologin des Cajueiro Krankenhauses in Angolas Hauptstadt Luanda,
bringt die Konsequenzen auf den Punkt: "Ein Kind, das nicht registriert ist, ist
ein nicht existierendes Kind. Es ist nicht im System." Ihre Belegschaft bemühe
sich, werdende Mütter über die Wichtigkeit von Geburtsurkunden aufzuklären, sagt
Baptista, aber in einem überfüllten Krankenhaus mit überlastetem Personal sei
das nur begrenzt möglich.

Dabei haben Mütter, die im Cajueiro Krankenhaus entbinden, Glück. Es ist
Angolas einziges staatliches Krankenhaus mit einem integrierten Büro für
Geburtenregistrierung. 25 weitere Registrierungsbüros in Krankenhäusern wurden
während der Corona-Pandemie geschlossen und bislang nicht wieder eröffnet.
Allerdings können Neugeborene auch im Cajueiro Krankenhaus nur zu bestimmten
Zeiten registriert werden: werktags zwischen 8 Uhr und 15 Uhr. Wer zu anderen
Zeiten entbindet, steht vor verschlossenen Türen.

Bürokratische Hürden

Claudia Lopes hat dort vor wenigen Stunden einen Sohn geboren und wartet
darauf, entlassen zu werden. Dass es die Möglichkeit gibt, eine Geburtsurkunde
für den kleinen Lucas zu beantragen, davon hatte die 22-Jährige noch nie gehört.
Ihre eigenen Dokumente oder die des Vaters hat sie nicht dabei. "Aber jetzt, wo
ich davon weiß, werde ich wiederkommen und es machen", meint die junge Mutter.

Doch selbst wenn Eltern über die Wichtigkeit einer Geburtsurkunde informiert werden, stehen viele vor großen bürokratischen Hürden. Madalena Zongo ist 17
Jahre alt, alleinstehende Mutter und wohnt in Luandas einkommensschwachem Bezirk
Grafanil. Ihren einen Monat alten Sohn Gabriel kann sie nicht registrieren
lassen: Denn sie selbst hat keine Geburtsurkunde und der Vater ihres Babys
verschwunden ist. Auch Zongos Eltern haben keine gültigen Dokumente, erzählt
sie. Damit gibt es kaum Hoffnung, dass Baby Gabriel jemals registriert wird. "Es
ist ein Teufelskreis. Wenn Babys bei der Geburt nicht registriert werden, sind
ihre Chancen, das später im Leben nachzuholen, minimal", meint Bollinger.

Zongo macht sich Sorgen, denn sie weiß aus eigener Erfahrung, dass eine
fehlende Geburtsurkunde viele Chancen im Leben verbaut. Sie selbst hatte
Schwierigkeiten, von einer Schule aufgenommen zu werden. Mit elf Jahren kam sie
schließlich in die 1. Klasse. Nach der 3. Klasse, mit 13 Jahren, brach sie ihre
Schullaufbahn ab. "Es war einfach zu schwierig, jedes Schuljahr neu um Aufnahme
zu bitte. Ich habe aufgegeben", sagt sie.

Millionen Menschen ohne Geburtsurkunde in Afrika, das verursacht Armut und
macht Perspektiven zunichte - Gründe, die die irreguläre Migration Richtung
Europa antreiben. Doch selbst die, die es nach Europa schaffen, stehen wieder
vor der gleichen Hürde: Ohne Ausweisdokumente können sie ihre Identität nicht
nachweisen. "Damit sind ihre Chancen auf einen Asylantrag geringer. Oder sie
fühlen sich gezwungen, eine falsche oder gefälschte Identität annehmen zu
müssen", erklärt Bollinger.

In der deutschen Debatte wird irregulären Migranten oft unterstellt, dass
sie ihre Pässe absichtlich auf der Flucht wegwerfen. Tatsächlich ist es so, dass
viele gar keine Ausweisdokumente besitzen./kpa/DP/zb

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