16.07.2024 13:01:43 - dpa-AFX: ROUNDUP: Karlsruhe prüft Verbot ärztlicher Zwangsmaßnahmen abseits von Kliniken

KARLSRUHE (dpa-AFX) - Spritzen setzen, Blut abnehmen, Medikamente
verabreichen - und all das gegen den Willen der Betroffenen. Das ist manchmal
nötig - und als Ultima Ratio auch rechtlich erlaubt. Dabei geht es um Menschen,
die etwa aufgrund einer psychischen Krankheit, einer geistigen oder seelischen
Behinderung die Notwendigkeit einer Behandlung nicht erkennen und danach handeln
können. Das können zum Beispiel Demente sein.

Nach geltender Rechtslage dürfen ärztliche Zwangsmaßnahmen nur in
Krankenhäusern durchgeführt werden, nicht aber in spezialisierten ambulanten
Zentren, in Pflegeheimen oder im häuslichen Umfeld. Das gilt auch, wenn
Betroffene durch den Transport ins Krankenhaus gesundheitlich beeinträchtigt
werden.

BGH bezweifelt Vereinbarkeit mit Grundgesetz

Im konkreten Fall erlitt eine Frau aus Nordrhein-Westfalen, die laut
Bundesgerichtshof (BGH) unter anderem an paranoider Schizophrenie erkrankt ist,
Retraumatisierungen. Sie habe für manche Transporte in die Klinik fixiert werden
müssen. Ihr Betreuer beantragte, der Patientin ein Medikament auf der Station
des Wohnverbundes zu verabreichen, in dem sie lebte.

Gerichte lehnten das ab, so dass der Fall beim BGH landete. Dieser hält die
Rechtslage für unvereinbar mit der aus Artikel 2 des Grundgesetzes folgenden
Schutzpflicht des Staates vor Beeinträchtigungen der körperlichen Unversehrtheit
und der Gesundheit. Das prüft nun das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe.

Gerichtspräsident Stephan Harbarth sagte zu Beginn der Verhandlung, das
Thema betreffe einen der "grundrechtssensibelsten Bereiche des
Erwachsenenschutzes". Einerseits müsse ein angemessener Schutz der Betreuten
sichergestellt sein, andererseits dürfe aber nicht unverhältnismäßig in ihre
Freiheitsrechte eingegriffen werden. "In diesem Spannungsfeld bewegt sich auch
die gesetzgeberische Entscheidung, an welchem Ort - oder an welchen Orten -
ärztliche Zwangsmaßnahmen durchgeführt werden können." Ein Urteil des Ersten
Senats wird erst in einigen Monaten erwartet. (Az. 1 BvL 1/24)

Gravierende gesundheitliche Folgen möglich

Thomas Pollmächer von der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und
Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde machte deutlich, dass ein
Transport ins Krankenhaus eine erhebliche Belastung für die Betroffenen bedeuten
könne. Allein die Fahrt dauere manchmal 20 bis 30 Minuten, die der Patient in
der Regel bewusst mitbekomme.

Bei Fixierungen könnten Menschen verletzt werden. Das könne bei einem
Transport schwerer sein als bei einer kurzfristigen Fixierung etwa zur
Medikamentengabe zu Hause. Im Einzelfall könnten die Einsätze gravierende
körperliche oder psychische Folgen haben, sagte er. Lebe jemand beispielsweise
in der Vorstellung, gefoltert zu werden, könne dies verstärkt werden.

Wenige Stimmen für Ausnahmen

Die Bundesregierung will die bestehende Regelung beibehalten, machte
Ministerialdirektorin Ruth Schröder aus dem Bundesjustizministerium deutlich. Es
sei nicht möglich, Ausnahmen im Gesetz allgemein zu regeln, ohne dass Tür und
Tor für Zwangsmaßnahmen geöffnet würden. Ein kleines Loch in der Schutzmauer
könnte einen Dammbruch auslösen. Gerade in das private Umfeld der Menschen
sollten Zwangsmaßnahmen aber nicht eingreifen. Auch könnten in Krankenhäusern
multiprofessionelle Teams ihre Expertise einbringen.

Diese Position unterstützen auch Fachleute etwa der
Bundesarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe von Menschen mit Behinderung, chronischer
Erkrankung und ihren Angehörigen. Hingegen sprach sich Kay Lütgens vom
Bundesverband der Berufsbetreuer*innen für Ausnahmen für Einzelfälle aus.
"Genaue Zahlen kann ich nicht dazu nennen."

Unter anderem Ulrich Langenberg von der Bundesärztekammer machte deutlich,
wie individuell unterschiedlich sich Behandlungsorte und
-maßnahmen auf Betroffene auswirken können. Belaste es den einen,
wenn in den eigenen vier Wänden Zwang gegen ihn ausgeübt wird, werde ein anderer
traumatisiert, wenn aus dem vertrauten Umfeld gerissen wird.

Defizitäre Datenlage

Grundsätzlich gilt, dass ärztliche Zwangsmaßnahmen gegen den Willen
Betroffener nur das letzte Mittel sein dürfen. Davor gibt es ein mehrstufiges
Prüfverfahren. Der Gesetzgeber kam so einer Entscheidung des Verfassungsgerichts
aus dem Jahr 2016 nach, dass der Staat nicht einwilligungsfähige Betreute nicht
sich selbst überlassen darf. Deutlich wurde in der Verhandlung, dass Daten etwa
zu Auffälligkeiten bei Zwangsbehandlungen fehlen und selbst Fachbetreuer häufig
für die spezielle Problematik nicht geschult sind.

Das Thema betrifft grundsätzlich eine größere Zahl an Menschen, wenngleich
nicht alle durch zwangsweise Transporte traumatisiert werden. Der BGH verweist
in seinem Beschluss auf die damalige Begründung des Gesetzentwurfs. Demnach sind
psychisch Erkrankte, bei denen eine sogenannte Depotmedikation mit Neuroleptika
in regelmäßigen Abständen wiederholt werden soll und bei denen aus medizinischer
Sicht die Zwangsmaßnahme nicht in einem Krankenhaus durchgeführt werden müsste,
eine zahlenmäßig relevante Gruppe./kre/DP/mis

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