15.05.2024 15:52:50 - dpa-AFX: POLITIK: Russische Familie trotz Kirchenasyl abgeschoben

BIENENBÜTTEL (dpa-AFX) - Die Abschiebung einer russischen Familie, die sich
im Kirchenasyl im niedersächsischen Landkreis Uelzen befand, hat deutliche
Kritik hervorgerufen. "Wir sind geschockt vom Vorgehen der
Landesaufnahmebehörde. Der Zugriff und die Festnahme der Familie an einem
Sonntag und die Missachtung des Kirchenasyls per se erschüttert und erschreckt
uns zutiefst", sagte der Pastor der Kirchengemeinde Bienenbüttel, Tobias Heyden,
in einer Mitteilung des Evangelisch-lutherischen Kirchenkreises Uelzen und der
St.-Michaelis-Kirchengemeinde Bienenbüttel.

Polizei holt Familie aus Gemeindehauswohnung

Am vergangenen Sonntag verschaffte sich laut der Kirchengemeinde die Polizei mit einem Durchsuchungsbeschluss, der für das Gemeindehaus, das Pfarrhaus und
alle zugehörigen Gebäude galt, Zutritt zur Gemeindehauswohnung, in der die
vierköpfige Familie untergebracht war. Polizeibeamte brachten die Familie zum
Flughafen Köln/Bonn, von dort wurde sie nach Barcelona geflogen. Das
Innenministerium und die Landesaufnahmebehörde Niedersachsen bestätigten die
Abschiebung. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge habe die persönlichen
Umstände jedes Familienmitgliedes geprüft, hieß es. Demnach lag kein Härtefall
vor. Die zuständige Ausländerbehörde habe daher die Überstellung eingeleitet,
Spanien habe die sogenannte Rückübernahme der Familie genehmigt.

Vater und Sohn sollten gegen die Ukraine kämpfen

Nach Angaben der Gemeinde waren die Eltern mit ihrem erwachsenen Sohn und
ihrer 16-jährigen Tochter mit einem spanischen Visum auf der Durchreise in
Deutschland bei Verwandten, als in ihrem Zuhause in Russland der
Einberufungsbefehl für Vater und Sohn eintraf. Da sich die Männer nicht am
russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine beteiligen wollen, beantragten sie in
Deutschland Asyl. Die Frau sei wegen der psychischen Belastungen schwer erkrankt
und werde medizinisch behandelt. Dennoch habe das Bundesamt für Migration und
Flüchtlinge den Asylantrag der Familie abgelehnt. "Als letzte Möglichkeit wandte
sich die Familie an die Propstei und die Diakonie des Kirchenkreises Uelzen",
hieß es.

Tochter auf dem Gymnasium, Jobs für Vater und Sohn

Die Propstei und die Kirchenkreissozialarbeit des Kirchenkreises Uelzen
hätten den Fall sorgfältig geprüft und das Kirchenasyl für sinnvoll erachtet.
Als Gründe nannte die Gemeinde den Gesundheitszustand der Mutter, die positive
Prognose zur Integration der Familie, Arbeitsangebote für Vater und Sohn und die
gelungene Eingliederung der Tochter in den Schulbetrieb eines Gymnasiums. Das
Kirchenasyl sei dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge ordnungsgemäß
gemeldet worden.

Tabu gebrochen?

Der Flüchtlingsrat Niedersachsen kritisierte die Abschiebung scharf. Seit
1998 hätten alle Landesregierungen aus guten Gründen auf ein gewaltsames
Eindringen in Kirchenasylräume verzichtet. Die rot-grüne Landesregierung habe
nun das Tabu gebrochen. Die Entscheidung sei vom Bundesamt getroffen worden,
doch die Landesaufnahmebehörde in Niedersachsen habe den Flug gebucht, den
Durchsuchungsbefehl beantragt und die Kirchenasylräumung durchgesetzt. "Das
Innenministerium hat es jederzeit in der Hand, Abschiebungen anzuordnen oder zu
stoppen", schrieb der Flüchtlingsrat.

Kein Recht auf Kirchenasyl

Das Innenministerium und die Landesaufnahmebehörde verwiesen darauf, dass
sich Kirchengemeinden nicht auf ein "Recht auf Kirchenasyl" berufen können. "Die
staatliche Rechtsordnung kennt keine zum Staatsgebiet gehörenden Räume, in denen
rechtlich gebotene Maßnahmen nicht durchgesetzt werden können", teilten beide
Behörden mit. Bei dem Fall handele es sich um einen sogenannten Dublin-Fall, die
Personen seien über einen anderen EU-Mitgliedsstaat nach Deutschland eingereist
und hätten dort bereits einen Asylantrag gestellt. Daher würde die Familie in
den EU-Mitgliedsstaat überstellt, der für die inhaltliche Prüfung des
Asylantrags zuständig sei, also Spanien./lk/DP/men

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