16.05.2024 07:01:48 - dpa-AFX: VERMISCHTES/Hochwasser in Brasilien: 149 Tote und Patrouillen gegen Plünderungen

PORTO ALEGRE (dpa-AFX) - Schwer bewaffnet und mit Taschenlampen ausgerüstet
fahren sie in Booten durch das Zentrum der überschwemmten südbrasilianischen
Stadt Porto Alegre. Aus Angst vor Plünderungen hat die Polizei die nächtlichen
Patrouillen hier eingerichtet. Es ist dunkel, die Stadt wurde vielerorts von der
Stromversorgung abgeschnitten. So wie hier ist der gesamte Bundesstaat Rio
Grande do Sul schwer von dem verheerenden Hochwasser gezeichnet, das nun schon
seit zwei Wochen herrscht und noch immer kein Ende findet.

Für Donnerstag werden erneut heftige Regenfälle sowie eine Kaltfront
erwartet, die Mindesttemperaturen von bis zu null Grad mit sich bringen könnte.
Der Wasserstand des Guaíba, ein Zusammenfluss mehrerer Flüsse in der
Regionalhauptstadt Porto Alegre, ist zuletzt wieder angestiegen und zeigte
Berichten zufolge in der Nacht auf Mittwoch einen Pegelstand von 5,25 Metern -
zehn Zentimeter unter dem Rekordwert vom 5. Mai. Über zwei Millionen Menschen
sind in dem Bundesstaat, der flächenmäßig fast so groß wie Italien ist,
betroffen. Die Zahl der Unwettertoten erhöhte sich nach Angaben des
Zivilschutzes am Mittwoch (Ortszeit) auf 149. 108 Menschen wurden vermisst und
weitere 806 verletzt.

Beinahe 90 Prozent aller Städte sind laut Nachrichtenagentur Agência Brasil
von den Hochwassern betroffen. Viele Gemeinden waren neben der Strom- auch von
der Wasserversorgung abgeschnitten. Auch Telefon- und Internetverbindungen
wurden vielerorts unterbrochen. Fast 540 000 Menschen mussten ihre Häuser laut
Zivilschutz verlassen, mehr als 76 000 Menschen in Notherbergen untergebracht
werden.

Eine der größten Überschwemmungen in der Geschichte Brasiliens

Auf der Südhalbkugel der Erde ist jetzt Herbst, Überschwemmungen kommen im
Süden Brasiliens um diese Zeit immer wieder vor. Nach Einschätzung von
Wissenschaftlern erhöht sich durch den Klimawandel allerdings deren Häufigkeit
und Intensität. Von "Szenen wie im Krieg" hatte der Gouverneur des Bundesstaats,
Eduardo Leite, gesprochen. Brasiliens Staatspräsident Luiz Inácio Lula da Silva,
der am Mittwoch zum dritten Mal in das betroffene Gebiet gereist war, sagte, die
Überschwemmungen gehörten zu den größten in der Geschichte des Landes.

Inmitten der ganzen Not müssen sich Betroffene auch noch Sorgen um ihren
Besitz machen. "Die Menschen haben Angst, dass ihr Eigentum geplündert wird",
sagt der Leiter der Zivilpolizei von Rio Grande do Sul, Fernando Sodré, im
Interview des Nachrichtensenders Record News.

Etwas nördlich von Porto Alegre liegt die Stadt Sao Leopoldo. Sie trägt
offiziell den Titel "Wiege der deutschen Einwanderung", denn hier kamen vor
genau 200 Jahren im Jahr 1824 die ersten Siedler an. Das Wasser ist hier bereits
etwas zurückgegangen, die ersten Anwohner kehren zu ihren Häusern zurück. "Was
für ein Horror, was für eine Situation", zitierte das Nachrichtenportal "G1"
eine Bewohnerin beim Eintreten ihres Hauses. Was die Wassermassen nicht zerstört
hätten und wertvoll sei, hätten Einbrecher gestohlen. "Sie haben einen
Fernseher, einen Computer und ein Videospiel mitgenommen. Man kann sich nicht
vorstellen, was alles weg ist, aber man kann schon sehen, dass das, was an der
Wand hing, nicht mehr da ist", erzählt ihr Mann. Ein anderer Bewohner klagt über
sein gestohlenes Motorrad.

Nach den unzähligen Rettungsmaßnahmen der vergangenen Tage würde die Polizei wieder zu ihrer eigentlichen Arbeit übergehen, erklärt Sodré
- nämlich sich um die Sicherheit der Menschen zu kümmern.
Justizminister Ricardo Lewandowski hatte zuletzt häufiger die Zahl der Beamten
im Einsatz aufgestockt. Es wurden auch Notherberge ausschließlich für Frauen und
Kinder angekündigt, nachdem es mehrere Anzeigen von sexuellen Missbräuchen durch
Männer gegeben hatte. Dazu müssten sie auch gegen zahlreiche Falschnachrichten
vorgehen, wie zum Beispiel über die angebliche Befreiung von Gefangenen, hieß es
von der Polizei.

Rettungsaktionen und Solidarität machen Hoffnung

Es gibt aber auch Hoffnung: Bilder von Menschen, die inmitten der reißenden
Wassermassen eine Kette bildeten, um andere zu retten, gingen viral. Tausende
Feuerwehrleute und Katastrophenschützer sind immer noch täglich im Kampf gegen
die Fluten im Einsatz. Die Rettung eines Pferdes, das vier Tage lang auf dem
Dach eines Hauses gestrandet war, ehe es betäubt und in einem Schlauchboot an
Land gebracht wurde, ist in Brasilien zu einem Symbol der Hoffnung geworden. Ein
Gemälde einer Drohnenaufnahme von "Caramelo" - wie das Tier getauft wurde - sei
Berichten zufolge für 130 000 Reais (knapp 23 500 Euro) versteigert worden, um
den Opfern der Überschwemmungen zu helfen. Insgesamt brachten die Einsatzkräfte
nach Angaben des Zivilschutzes über 76 000 Menschen und fast 11 500 Tiere in
Sicherheit.

Im ganzen Land, aber auch darüber hinaus ist die Solidarität groß.
Zahlreiche brasilianische Promis wie Popstar Anitta oder Fußballstars wie Neymar
oder Vinícius Júnior riefen zu Spenden auf und boten ihre eigenen Lastwagen oder
Hubschrauber dafür an. Vielerorts wurden Lebensmittel, Hygieneartikel oder
Kleidung gesammelt und von Freiwilligen in die betroffenen Regionen gefahren.
Auch zahlreiche andere Länder boten Unterstützung an.

Das nach Angaben der Regionalregierung größte Kriegsschiff Lateinamerikas
wurde für humanitäre Hilfseinsätze im Hafen der Stadt Rio Grande in Empfang
genommen. Zu den wichtigsten Ausrüstungsgegenständen gehören zwei
Wasseraufbereitungsanlagen, die insgesamt 20 000 Liter pro Stunde produzieren
können. Zudem verfügt es unter anderem über eine Intensivstation, ein
Thermalbad, einen Operationssaal, eine Zahnarztpraxis und eine vollständige
Apotheke. Die Entsendung des Schiffes stellt laut Vizeadmiral Fonseca Júnior die
größte Anstrengung der Marine zugunsten der Bevölkerung des Staates dar.

Die Bundesregierung versprach, die Schulden des Bundesstaats für drei Jahre
auszusetzen. Präsident Lula kündigte bereits zuvor ein Hilfspaket von mehr als
50 Milliarden Reais (knapp 9 Milliarden Euro) an. "Der Wiederaufbau dieses
Staates wird schwierig sein, aber wir verpflichten uns, Rio Grande do Sul so zu
belassen, wie es vor dem Regen war", sagte er am Montag./ppz/DP/zb

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