14.05.2024 08:05:26 - dpa-AFX: POLITIK: 75 Jahre Grundgesetz - Wehrhaft, aber keineswegs unüberwindbar

BERLIN (dpa-AFX) - In der Ruinenlandschaft, die Hitlers Weltkrieg in
Deutschland hinterlassen hatte, wirkte die Pädagogische Akademie in Bonn wie ein
Ufo von einem fernen Planeten, der menschlichen Zivilisation um Zeitalter
voraus. Die Akademie war von 1930 bis 1933 im nüchternen Bauhausstil errichtet
und durch Zufall vom Bombenhagel verschont worden. Es hätte keinen besseren
Versammlungsort für den Parlamentarischen Rat geben können, der eben hier vom 1.
September 1948 bis zum Mai 1949 die Verfassung für eine neue deutsche Demokratie
entwarf ? das Grundgesetz. Am 8. Mai vor 75 Jahren wurde es beschlossen, am 23.
Mai offiziell verkündet.

Es war der zweite Versuch der Deutschen, eine Demokratie zu begründen. Der
erste war 1933 mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten gescheitert. Die
Mütter und Väter des Grundgesetzes wollten aus dieser Katastrophe Lehren ziehen.
Eine davon war, dem Staatsoberhaupt eine wesentlich schwächere Position zu
geben. In der Weimarer Republik war der Reichspräsident eine Art Ersatzkaiser
gewesen, der direkt gewählt wurde und mit enormen Machtbefugnissen ausgestattet
war, was in der Endphase wesentlich zur Destabilisierung der Demokratie
beigetragen hatte.

Eine zweite Lehre war die Einführung des konstruktiven Misstrauensvotums:
Ein Kanzler sollte nur noch dann gestürzt werden können, wenn sich das Parlament
gleichzeitig auf einen neuen einigen konnte. In der Weimarer Republik war das
nicht so gewesen, was den Eindruck der Lähmung verstärkt hatte. Mit am
wichtigsten: Auch auf Drängen der westlichen Besatzungsmächte wurden die
Grundrechte ganz nach oben an den Anfang des Textes gesetzt. Und es wurde ein
wirkmächtiges Verfassungsgericht begründet. "Es bringt das Grundgesetz zum
Sprechen und wendet es auf neue Lebensumstände an", sagt der frühere
Bundesinnenminister Gerhart Baum (FDP).

Das und mehr sind Reaktionen auf Weimar. "Gleichwohl muss man sagen, dass
die Mär, die viele Jahre in Deutschland verbreitet wurde, dass Weimar nämlich an
seiner Verfassung gescheitert sei, nicht haltbar ist", sagt Andreas Voßkuhle,
ehemaliger Präsident des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe, der Deutschen
Presse-Agentur. "Weimar fehlte es vor allem an Demokraten ? Personen, die sich
mit der demokratischen Verfassung identifizierten."

Mit der Erfahrung des Nationalsozialismus noch unmittelbar vor Augen bauten
die Verfasser des Grundgesetzes viele Elemente der wehrhaften Demokratie in die
neue Staatsordnung ein. Dazu gehören hohe Hürden für Parteiverbote, für die
Aberkennung von Grundrechten oder eine Veränderung des Grundgesetzes in
essenziellen Punkten. "Aber wir müssen auch hier feststellen, dass es keine
völlige juristische Absicherung der Demokratie gibt", so Voßkuhle. "Letztlich
kommt es darauf an, inwieweit die Bürgerinnen und Bürger die demokratische
Ordnung unterstützen. Zurzeit beobachten wir weltweit einen Trend zu einer
elektoralen Autokratie."

Das Ungarn von Viktor Orban und das Polen unter der früheren
nationalkonservativen PiS-Regierung sind Beispiele für Staaten, die die
Meinungsvielfalt systematisch beschneiden, Medien auf Linie bringen und Gerichte
als Kontrollinstanzen schwächen. Es gibt dort zwar noch Wahlen, aber die
Regierung versucht sicherzustellen, dass ihr die Macht nicht mehr entgleitet.
Voßkuhle zweifelt nicht daran, dass das in gewissem Umfang auch in Deutschland
möglich wäre.

Vor diesem Hintergrund läuft schon seit längerem eine Diskussion darüber,
wie das Bundesverfassungsgericht besser vor Demokratiefeinden geschützt werden
kann. Konkret geht es darum, die Amtszeit von Verfassungsrichtern im Grundgesetz
festzuschreiben: Das könnte verhindern, dass sie bei einem Regierungswechsel
Richter vergleichsweise einfach aus dem Amt entfernt werden könnten.

"Demokratien haben stets auch die Neigung, sich gegen sich selbst zu
wenden", meint Voßkuhle. Aufseiten der Bürgerinnen und Bürger gebe es immer ein
gewisses Misstrauen, ob die Politiker ihre Wahlversprechen einhielten und sich
nicht von egoistischen Motiven leiten ließen. Und umgekehrt seien die Politiker
immer der Versuchung ausgesetzt, sich nicht mehr an die Spielregeln zu halten,
wenn sie erst einmal gewählt seien. "Deshalb wird über die Ausgestaltung der
Demokratie immer gerungen. Das kann gar nicht anders sein. Ich warne auch davor
zu glauben, dass es einmal so etwas wie ein Goldenes Zeitalter der Demokratie
gegeben hat."

Heute leben nur noch wenige Menschen, die sich an die Gründung der
Bundesrepublik vor 75 Jahren erinnern können ? und damit auch noch an den Krieg
und den Holocaust. Voßkuhles Vater, verstorben 2010, war so jemand - er war im
Zweiten Weltkrieg Offizier gewesen. "Wieviele Nächte sind wir zusammengesessen
und haben über den Nationalsozialismus gesprochen?", erinnert sich der heute 60
Jahre alte Sohn. "Das fällt mittlerweile weg." Und damit verschwinde auch ein
gewisses Maß an Sensibilität dafür, dass es nicht selbstverständlich ist, in
einer Demokratie zu leben. Ähnlich sieht es der 91 Jahre alte Gerhart Baum, der
durchaus noch Erinnerungen an den Krieg hat. "In der Tat geht Sensibilität
verloren, wenn sie nicht immer wieder aktiviert wird", sagt er der dpa. Die
Demokratie werde heute nicht nur von Verfassungsfeinden bedroht, sondern vor
allem auch von Gleichgültigkeit.

Voßkuhle erzählt von einer Untersuchung, die er neulich gelesen hat: "Der
amerikanische Politikwissenschaftler Adam Przeworski hat festgestellt, dass
zwischen 1788 und 2008 die Macht 554 Mal durch Wahlen und 577 Mal durch einen
Umsturz in andere Hände überging und dass 68 Länder, darunter Russland und
China, noch nie einen Regierungswechsel zwischen Parteien infolge einer Wahl
erlebt haben." In Westdeutschland gibt es die Demokratie jetzt seit 75 Jahren,
in Ostdeutschland seit 34. Eigentlich sind das noch keine langen Zeiträume ? und
doch scheint sich bei vielen Wählern eine gewisse Unbekümmertheit breitzumachen.

"Wir sind jetzt in der bedrückenden Situation, dass wir in einigen
Bundesländern erwarten müssen, dass die AfD stärkste Partei im Parlament wird ?
eine Partei mit einem problematischen Verständnis von Demokratie", sagt
Voßkuhle. "Das wäre eine Zäsur. Das würde das politische System verändern.
Insofern sind wir gerade in einem Moment, in dem die Situation kippen könnte."
Das Jahr des Grundgesetz-Jubiläums dürfte ein entscheidendes werden in der
Geschichte der bundesdeutschen Demokratie./cd/DP/jha

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