04.07.2024 16:47:34 - dpa-AFX: ROUNDUP 4/Großbritannien wählt: Premier Sunak droht schwere Niederlage

(neu: mehr Details und Hintergrund)

LONDON (dpa-AFX) - Großbritannien steuert auf einen Regierungswechsel zu:
Premierminister Rishi Sunak und seiner Konservativen Partei droht bei der
Parlamentswahl eine historische Niederlage. Meinungsforscher erwarten, dass die
sozialdemokratische Labour-Partei von Keir Starmer einen deutlichen Sieg
einfährt. Damit würde der 61-Jährige als Nachfolger von Sunak in die Downing
Street einziehen.

Millionen Menschen können bis zur Schließung der Wahllokale um 23.00 Uhr
(MESZ) ihre Stimme abgeben. Danach wird eine Prognose erwartet. Die
konservativen Tories regieren seit 14 Jahren im Vereinigten Königreich, seitdem
standen Premierminister wie Boris Johnson und Liz Truss an der Spitze. Nun
könnte es zum politischen Umbruch kommen.

Wie ein Umfrageexperte die Lage einschätzt

Projektionen sagen Labour weit mehr als 400 der 650 Mandate im Unterhaus
(House of Commons) voraus. Damit liegt die Partei auf Kurs, die größte Mehrheit
seit rund 190 Jahren zu erringen. Dabei ist Labour gar nicht so beliebt. "Es ist
eine Wahl, die die Tories verlieren - und nicht eine, die Labour gewinnt", sagte
der Umfrageexperte John Curtice von der Universität Strathclyde in Glasgow dem
Portal "Politico".

Umfragen sehen Labour bei weniger als 40 Prozent der Stimmen. Im britischen
Mehrheitswahlrecht gewinnt aber nur die Kandidatin oder der Kandidat mit den
meisten Stimmen den Wahlkreis. Alle übrigen Stimmen haben keine Auswirkung.

Ein weiterer Grund ist die wachsende Zustimmung für kleinere Parteien wie
die Liberaldemokraten, die einigen Umfragen zufolge sogar die Konservativen als
stärkste Oppositionsfraktion ablösen könnten, sowie die rechtspopulistische
Partei Reform UK.

König Charles III. gibt Auftrag zur Regierungsbildung

Die 650 Wahlkreise werden noch bis zum Freitagmorgen ausgezählt. König
Charles III. beauftragt den neuen Premierminister am Freitag offiziell mit der
Regierungsbildung.

Zur Wahl brachten etliche Menschen auch ihre Hunde mit, in sozialen Medien
teilten manche Bilder mit dem Schlagwort #DogsAtPollingStations.

Starmer kam an seinem Wohnort in Nordlondon zur Stimmabgabe, gemeinsam mit
Ehefrau Victoria. Es gehe um die Zukunft Großbritanniens, schrieb er auf der
Plattform X. In seiner letzten Rede vor der Abstimmung betonte er,
Großbritannien könne sich fünf weitere Jahre mit konservativer Regierung nicht
leisten. Starmer arbeitete früher als Anwalt, leitete die Anklagebehörde CPS und
führt seine Partei seit vier Jahren.

Bewährungsprobe für Sunak auch in seinem Wahlkreis

Premierminister Sunak gab kurz nach Öffnung der Wahllokale seine Stimme ab.
In Begleitung seiner Ehefrau Akshata Murty erschien der 44-Jährige im Weiler
Kirby Sigston in Nordengland und winkte den Fotografen zu. Es gilt als möglich,
dass Sunak als erster amtierender Premier seinen Wahlkreis - Richmond and
Northallerton - verliert und den Wiedereinzug ins Parlament verpasst.

Sunak ist seit Oktober 2022 Premierminister. "Wenn Labour einen Blankoscheck bekommt, werden sie ihre Supermehrheit nutzen, um Sie für den Rest Ihres Lebens
stärker zu besteuern", schrieb er bei X. Eine solche "Supermehrheit" gibt es im
britischen Parlamentssystem nicht. Es ist gleich, ob eine Partei im Unterhaus
eine Mehrheit von 20 oder 200 Sitzen hat.

Briten müssen sich diesmal ausweisen

Wahlberechtigt sind mehr als 46 Millionen Menschen, die jeweils eine Stimme
haben. Es ist die erste Parlamentswahl, bei der ein offizieller Ausweis für die
Stimmabgabe vorgezeigt werden muss. Gut 6,7 Millionen Menschen nutzten die
Möglichkeit zur Briefwahl.

Alle 650 Sitze im Unterhaus werden per Direktmandat vergeben. Die absolute
Mehrheit im Unterhaus (House of Commons) beträgt 326 Sitze. Bei der bisher
letzten Wahl 2019 hatten die Tories 365 Sitze gewonnen, Labour hatte 202
Mandate.

Konservative hoffen auf Schadensbegrenzung

Experten betonten, die Konservativen seien nur noch auf Schadensbegrenzung
aus. Vor Öffnung der Wahllokale behauptete Sunak in stündlichen Posts auf X, die
Sozialdemokraten planten Steuererhöhungen auf breiter Fläche. Das stimmt nach
Einschätzung von Kommentatoren nicht, Labour-Chef Starmer weist den Vorwurf
zurück.

Starmer kündigte ein "neues Zeitalter der Hoffnung und Chancen" an. "Dies
ist eine großartige Nation mit grenzenlosem Potenzial", sagte Starmer am
Vorabend der Wahl. "Die Briten verdienen eine Regierung, die ihren Ambitionen
entspricht. Heute haben wir die Chance, gemeinsam mit Labour mit dem
Wiederaufbau Großbritanniens zu beginnen."

Gründe für den Niedergang der Konservativen gibt es viele. Vor allem haben
zahlreiche Skandale und Affären, vor allem unter dem ehemaligen Premierminister
Boris Johnson, das Vertrauen der Menschen in die Tory-Partei zerstört, die seit
14 Jahren regiert. Hinzu kommt wirtschaftliche Stagnation.

Rechtspopulisten nehmen Konservativen viele Stimmen weg

Die rechtspopulistische Partei Reform von Nigel Farage, der einst den Brexit maßgeblich vorantrieb, dürfte erstmals ins Unterhaus gewählt werden. Offen ist,
wie viele Wahlkreise die ehemalige Brexit-Partei gewinnen kann. Experten rechnen
vor allem damit, dass Farage und Co. die Konservativen viele Stimmen am rechten
Rand kosten.

Die Wahl könnte auch Auswirkungen auf die Debatte um eine schottische
Unabhängigkeit haben. Sollte die Schottische Nationalpartei (SNP) von
Regierungschef John Swinney, die für eine Unabhängigkeit von Großbritannien und
eine Rückkehr in die EU eintritt, im nördlichen britischen Landesteil weniger
Sitze gewinnen als Labour, dürfte die Frage vorerst keine Rolle
spielen./bvi/DP/jha

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