16.06.2024 14:27:13 - dpa-AFX: Belarus-Route: Wieder mehr Migranten unterwegs

BERLIN/WARSCHAU (dpa-AFX) - An einem Samstagnachmittag Mitte Mai sind es
zwei Syrer und zwei Ägypter, die im Örtchen Schwennenz auffallen. Ein paar
Stunden später stehen drei Syrer an einem Radweg bei Neu Grambow. Sieben von 30
Männern, die die Bundespolizeiinspektion Pasewalk in Mecklenburg-Vorpommern an
einem einzigen Wochenende entlang der Grenze zu Polen aufgreift. Allen
gemeinsam: Sie kamen über die sogenannte Belarus-Route. Nach einem Rückgang im
Winter steigt die Zahl unerlaubter Einreisen über diesen Weg wieder.

Polen und die Europäische Union beschuldigen den russischen Präsidenten
Wladimir Putin und seinen Verbündeten, den belarussischen Machthaber Alexander
Lukaschenko. Sie sollen Menschen aus dem Nahen Osten und anderen Krisenregionen
gezielt mit Visa und Logistik dabei helfen, unerlaubt in die EU zu kommen.
Begonnen hat das 2021. Der Weg führt von Belarus über die EU-Außengrenze nach
Polen: Dort hat der polnische Grenzschutz seit Jahresbeginn 16 500 Versuche
einer irregulären Überquerung registriert. Im gleichen Zeitraum 2023 waren es 11
200 solcher Versuche.

Mehr als 2200 kamen nach Deutschland

Sind die Menschen erst in der EU, ziehen viele weiter in Richtung
Deutschland. Auch hier zeigt die Kurve nach oben: Die Bundespolizei registrierte
im Januar gerade einmal 26 und im Februar 25 Menschen, die über diese Route
unerlaubt eingereist waren. Im März waren es dann 412, im April 861. Im Mai
vermerkt die vorläufige Statistik 891 unerlaubte Einreisen über die
Belarus-Route, wie die Bundespolizei der Deutschen Presse-Agentur auf Anfrage
mitteilte. Seit Jahresbeginn bis 30. Mai waren es also 2215. Davon fielen 1021
in Brandenburg auf, 867 waren es in Sachsen und 327 in Mecklenburg-Vorpommern.

"Wir wissen auch über unsere Kontaktstellen in anderen Ländern, dass diese
Route von den Schleuserorganisationen wieder mehr in Betracht gezogen wird",
sagt Andreas Roßkopf, der für die Bundespolizei zuständige Chef der Gewerkschaft
der Polizei. "Wir haben Erkenntnisse, dass das wieder zunimmt. Allerdings ist
das bisher keine eklatante Steigerung." Und im Vergleich zum vergangenen Jahr
sind die Zahlen deutlich niedriger: 2023 hatte die Bundespolizei bis Ende Mai
auf der Belarus-Route schon gut 6000 unerlaubte Einreisen festgestellt, wie der
Mediendienst Integration in einer Grafik aufschlüsselt.

Der Aufwärtstrend stiftet dennoch Unruhe in Berlin. "Moskau und Minsk
betreiben ganz offensichtlich eine hybride Kriegsführung, indem sie Menschen aus
Krisenländern gezielt anlocken und in die EU weiterschleusen", warnte der
CDU-Politiker Thorsten Frei kürzlich.

Polen wieder mit Sperrzone

In Polen spitzt sich die Situation an der Grenze zu Belarus seit ein paar
Wochen wieder zu. Dabei steigt nicht nur die Zahl der Migranten, die versuchen,
die inzwischen stark gesicherte EU-Außengrenze irregulär zu überqueren. Auch die
Aggression nimmt zu. Anfang Juni starb ein 21 Jahre alter Soldat, der beim
Einsatz an der Grenze von einem Migranten mit einem Messer schwer verletzt
worden war.

"Fast täglich beobachten Grenzschutzbeamte aggressives Verhalten von
Migranten", sagt der Sprecher des Grenzschutzes, Oberstleutnant Andrzej Juzwiak.
"Sie werfen Steine, Äste und brennende Zweige, schießen mit Steinschleudern oder
attackieren polnische Patrouillen mit Messern oder zerbrochenen Flaschen."

Als Reaktion auf die tödliche Messerattacke ist Polen nun zu einer
umstrittenen Maßnahme zurückgekehrt, die einst die nationalkonservative
PiS-Regierung ersonnen hatte: Es gibt erneut eine Sperrzone an 60 Kilometern der
insgesamt 418 Kilometer langen Grenze. Sie reicht 200 Meter, an manchen Stellen
auch bis zu zwei Kilometer tief ins Land hinein. Anders als zu Zeiten der PiS
sollen Journalisten und Hilfsorganisationen Zutritt zu diesem Gebiet erhalten -
wenn sie dafür eine Genehmigung beantragen.

Neue polnische Regierung bleibt bei harter Linie

In ihrer harten Haltung beim Thema Migration unterscheidet sich die seit
Dezember amtierende Mitte-Links-Koalition von Ministerpräsident Donald Tusk kaum
von ihren nationalkonservativen Vorgängern. Nachdem die Situation im Herbst 2021
eskaliert war, ließ die PiS-Regierung die Grenze zu Belarus mit einem 5,5 Meter
hohen Zaun und einem elektronischen Überwachungssystem sichern und schickte
massiv Soldaten in die Region.

Auch Tusk und sein Außenminister Radoslaw Sikorski sprechen von einem
hybriden Angriff, hinter dem sie den Kreml vermuten. "Wir haben es hier nicht
mit Asylbewerbern zu tun, sondern mit einer organisierten, sehr effizienten
Operation, um die polnische Grenze zu durchbrechen und zu versuchen, den Staat
zu destabilisieren", sagte Tusk bei einem Besuch an der Grenze. Nach Angaben
Sikorskis sollen 90 Prozent der Migranten russische Visa haben.

Der deutsche Polizeigewerkschafter Roßkopf sieht die polnischen
Grenzschützer in der Klemme. An der Grenze zu Litauen und Belarus gehe es um
"dschungelartige Geländeabschnitte", teils sumpfig, teils hoch bewachsen. "Es
ist für Polen sehr, sehr schwierig, diese Grenze lückenlos zu überwachen." Heißt
wohl: Sollten es Russland und Belarus darauf anlegen, die Route weiter zu
beleben, würde das eine Menge Kopfzerbrechen machen - zuerst in Polen, dann aber
auch in Deutschland.

Geringere "Migrationsreisebewegung"

Noch gebe es dieses Jahr insgesamt eine geringere "Migrationsreisebewegung"
über Osteuropa als zuletzt, sagt Roßkopf. Das zeigen die Gesamtzahlen an den
Ostgrenzen, die nicht nur die Belarus-Route, sondern alle Migrationswege
umfassen: In den ersten fünf Monaten registrierte die Bundespolizei an der
deutsch-polnischen und der deutsch-tschechischen Grenze insgesamt 10 875
unerlaubte Einreisen, im Vergleich zu 12 556 in der gleichen Zeit 2023.

Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) und die Landesregierung Brandenburg loben die Wirkung der im Oktober eingeführten stationären Grenzkontrollen.
Roßkopf war immer skeptisch und ist auch jetzt nicht überzeugt: "Ich bleibe
dabei, es ist ein Irrglaube, dass Menschen, die professionell geschleust werden,
genau an den Stellen übertreten, wo wir seit Jahr und Tag kontrollieren."
Schleierfahndung entlang der Grenze sei viel effektiver.

"Ein nicht unerheblicher Teil taucht ein zweites oder drittes Mal bei uns
auf", sagt der Gewerkschafter. An der Rechtslage habe sich ohnehin nichts
geändert: Bittet ein Einreisender in Deutschland um Schutz, wird er für das
weitere Verfahren erfasst und erstmal untergebracht.

Was Roßkopf aber einräumt: Seit Beginn der deutschen Grenzkontrollen halten
neben Polen auch Tschechien und die Slowakei ihre eigenen Ostgrenzen offenbar
dichter. Ein solcher Dominoeffekt rückwärts sei tatsächlich eingetreten, sagt
er. Doch diese Kontrollen würden wieder zurückgefahren. Der Aufwand sei einfach
sehr hoch - genauso wie in Deutschland./dhe/DP/men

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