27.06.2024 14:01:12 - dpa-AFX: POLITIK/ROUNDUP: Katholiken droht 'Implosion zur Minderheitenkirche'

BONN (dpa-AFX) - Im vergangenen Jahr sind weniger Menschen aus der
katholischen Kirche ausgetreten. 2022 hatte die Zahl der Austritte bei mehr als
einer halben Million gelegen - ein dramatischer Negativrekord. 2023 waren es
dagegen 402 694, wie die Deutsche Bischofskonferenz am Donnerstag in Bonn
mitteilte. Insgesamt gehören jetzt noch 20,3 Millionen Menschen in Deutschland
der katholischen Kirche an. Die 20-Millionen-Marke könnte im laufenden Jahr 2024
erstmals unterschritten werden.

"Die Zahlen sind ein Indikator der Wirklichkeit", sagte der Vorsitzende der
Deutschen Bischofskonferenz und Bischof von Limburg, Georg Bätzing. Die Kirche
müsse sich ehrlich machen und Entwicklungen wahrnehmen. "Die Zahlen sind
alarmierend. Sie zeigen, dass die Kirche in einer umfassenden Krise steckt."
Resignation, Angst oder Rückzug seien jedoch die falschen Antworten. "Als Kirche
haben wir den Auftrag, die frohe Botschaft vom liebenden, schöpferischen und
befreienden Gott zu verkünden, sie zu leben und weiterzugeben." Im Übrigen seien
Reformen unumgänglich. Dabei gelte: "Reformen allein werden die Kirchenkrise
nicht beheben, aber die Krise wird sich ohne Reformen verschärfen. Und deswegen
sind Veränderungen notwendig."

Aus der evangelischen Kirche traten 2023 etwa 380 000 Mitglieder aus, wie
die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) bereits im vergangenen Monat
mitgeteilt hatte. Das waren ähnlich viele wie im Jahr davor. Noch 18,5 Millionen
Menschen gehören einer der 20 Landeskirchen an.

Verlust in der Größe einer Stadt wie Bochum

Der Theologe Daniel Bogner sagte der Deutschen Presse-Agentur, auch wenn die Austrittszahlen zurückgegangen seien, sollte man darin keine Entwarnung sehen.
"Der Rückgang findet auf extrem hohem Niveau statt. Man muss sich das bildhaft
vorstellen: Während im Jahr zuvor Menschen in der Größe einer Stadt wie Nürnberg
aus der Katholischen Kirche ausgetreten sind, waren es im vergangenen Jahr mehr
als alle Einwohner einer Stadt wie Bochum. So etwas ist dramatisch, man kann es
sich nicht schönreden."

Es sei "seit Jahren das gleiche Bild", sagte der Freiburger Erzbischof
Stephan Burger: Immer wenn einmal im Jahr die aktuelle Kirchenstatistik
präsentiert wird, sind es wieder ein paar Hunderttausend Mitglieder weniger
geworden. Die Zahl schwankt innerhalb einer gewissen Bandbreite, aber der
Erosionsprozess ist immer ungebrochen und auch weitgehend unabhängig von
aktuellen Ereignissen. Denn die Entkirchlichung ist nach Erkenntnissen von
Wissenschaftlern kein vorübergehender Trend, sondern eine langfristige
Entwicklung mit gesellschaftlichen Ursachen, die die Kirche nicht beeinflussen
kann.

Früher war eine Mitgliedschaft in der Kirche in vielen Regionen Deutschlands Pflicht, wenn man nicht schief angeschaut werden wollte. Ein Austritt konnte
viele konkrete Nachteile mit sich bringen. Das ist heute überhaupt nicht mehr so
- im Gegenteil, wenn man in der Kirche bleibt, muss man Kirchensteuer zahlen und
gerät manchmal sogar unter Rechtfertigungsdruck, etwa mit Blick auf den
Missbrauchsskandal.

Ihre frühere Deutungshoheit über Himmel und Erde, Leben und Sterben hat die
Kirche schon lange verloren. Sie konkurriert mit vielen anderen Weltanschauungen
und Lebensentwürfen. Vor diesem Hintergrund sagen manche Forscher sogar, dass es
verwunderlich ist, dass immer noch so viele Leute in der Kirche sind. Ein Grund
dafür ist nach Einschätzung des Religionssoziologen Detlef Pollack, dass
christliche Werte wie Nächstenliebe von breiten Bevölkerungsschichten geteilt
werden.

"Die Mehrheit der Bevölkerung ist kaum noch religiös ansprechbar"

Für den Kirchenrechtler Thomas Schüller steht dennoch fest: "Die Implosion
der katholischen Kirche zu einer Minderheitenkirche ist unumkehrbar." Das
belegen auch Studien. Eine Untersuchung der Universität Freiburg prognostizierte
2019, dass die Zahl der Kirchenmitglieder - katholisch und evangelisch - bis zum
Jahr 2060 um die Hälfte auf knapp 23 Millionen sinken werde. Eine
Kirchenmitgliedschafts-Untersuchung der EKD ergab 2023, dass sich inzwischen 56
Prozent der deutschen Gesamtbevölkerung als uneingeschränkt nicht religiös
bezeichnen. Bischof Bätzing folgert daraus: "Die Mehrheit der Bevölkerung ist
kaum noch religiös ansprechbar."

Angesichts dieser Zahlen haben sich die Kirchen innerlich längst darauf
eingestellt, dass die Zeit der Volkskirchen in Deutschland bald für immer vorbei
sein wird. Einen Blick in die Zukunft gewährt Ostdeutschland, nach einer
inzwischen schon älteren Studie der Universität Chicago von 2012 die
ungläubigste Region der ganzen Welt: 59 Prozent der Bevölkerung sagen dort, dass
sie noch nie an Gott geglaubt haben - in den USA sind das nur vier Prozent.

Der hohe Anteil an Atheisten wird dort oft auf die NS-Diktatur und das
anschließende DDR-Regime zurückgeführt. Aber auch die Niederlande, die noch vor
50 Jahren als ein sehr religiöses Land mit blühenden Kirchen galten, haben sich
zu einem ganz überwiegend säkularen (nichtkirchlichen) Land entwickelt. Wer dort
sonntags eine katholische Messe besuchen will, muss oft weite Anfahrten in Kauf
nehmen. In öffentlichen Debatten spielen die Kirchen dort kaum noch eine Rolle.

Überzeugte Katholiken können sich vielleicht damit trösten, dass ihre Kirche weltweit immer noch zulegt - auf mittlerweile fast 1,4 Milliarden
Mitglieder./cd/DP/jha

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