08.07.2024 11:06:35 - dpa-AFX: EM 2024/Kritik und Zweifel: Kane als Sinnbild schwacher Engländer

DORTMUND/BLANKENHAIN (dpa-AFX) - Gareth Southgate attestierte Harry Kane
"einen super Job". Diese Meinung über seinen Kapitän hat der englische
Cheftrainer aktuell ziemlich exklusiv. Der sonst als Tormaschine bekannte Kane
ist bei britischen Medien, einigen Experten und vor allem bei zahlreichen Fans
der Three Lions vor dem EM-Halbfinale gegen die Niederlande am Mittwoch (21.00
Uhr/ZDF und MagentaTV) massiv in die Kritik geraten.

"Immense Rolle"

Die Vorwürfe: Der Bayern-Star ist nicht fit, läuft seiner besten Verfassung
weit hinterher und ist trotz zwei Turniertoren kein Faktor im englischen Spiel
bislang. Auf dem Weg zum ersten großen Triumph seit dem WM-Titel vor 58 Jahren
stellt sich vor allem eine Frage: Hilft ein Kane außer Form diesem Team - oder
schadet er eher? "Er ist vielleicht nicht im Fluss, aber er spielt immer noch
eine immense Rolle für die Gruppe", sagte Southgate zur Verteidigung seines
Führungsspielers.

Wie sehr das Denkmal Kane in diesen Tagen wackelt, zeigten die beiden
vergangenen K.o.-Spiele: Auswechslung beim Sieg nach Verlängerung gegen die
Slowakei. Auswechslung beim Sieg nach Elfmeterschießen gegen die Schweiz, als er
sich mit Krämpfen vom Feld schleppte. Danach sah er von der Bank zu, wie alle
Schützen die Nerven behielten. Eine Situation, die bei früheren Turnieren
undenkbar erschien.

Die Alternativen heißen Toney und Watkins

In den heimischen Medien wurde seine Leistung daraufhin verurteilt. Kane
wurde in der Kategorie "Loser" einsortiert und als "unbeweglich" beschrieben.
Der 30-Jährige selbst geht ganz gelassen mit der Kritik um. "Wir sind im
Halbfinale, also machen wir es wohl recht gut. Wir haben wirklich diesen
Glauben, dass wir etwas Besonderes schaffen können", sagte Kane.

Nicht wenige fordern, Kane durch einen der beiden bisherigen Reservisten
Ivan Toney oder Ollie Watkins zu ersetzen. Doch der konservative und stets
loyale Southgate wird seinen Kapitän in Dortmund gewiss nicht antasten. "Gareth
wird bei ihm bleiben, er wird Harry Kane nicht rausnehmen. Er ist einer seiner
Anführer und einer der größten Fußballer, den England je hatte", sagte
Ex-Nationalspieler Gary Neville bei Sky.

Zumal Kane nach der Auswechslung im Viertelfinale schnell Entwarnung geben
konnte. "Mir geht es gut, ich war einfach müde. Ich hatte ein bisschen Krämpfe,
bin über ein paar Wasserflaschen gestolpert und beide Waden haben gekrampft",
berichtete der Stürmer. Schon früher im Turnier hatte der Bayern-Torjäger
gesagt, er sei bei 100 Prozent.

Weniger als 100 Pässe empfangen

Wer Kane im Turnier spielen sieht, zweifelt daran. Der sonst so spiel- und
passstarke Kane hängt oft völlig in der Luft. Der "Guardian" schlüsselte am
Montag Statistiken auf, um ein detailliertes Leistungsbild zu bekommen.
Ergebnis: Schlechte Passquote, sehr wenige Ballkontakte. Während die weiteren
Offensivspieler Jude Bellingham und Phil Foden über die fünf Spiele bei der EM
hinweg insgesamt 300 Pässe empfangen haben, sind es bei Kane noch nicht einmal
100.

Doch selbst wenn er auf dem Rasen nicht überzeugt: Kane ist als
unumstrittener Chef fürs Kollektiv nicht zu ersetzen. Er ist im Team als
kollegialer Anführer unumstritten und verteidigt seine Mitspieler gegen Kritik
von außen. So auch bei dieser EM, als die Experten schon früh lospolterten und
die nationale Ikone Gary Lineker Englands Leistung als "shit" bezeichnete.

Kane entgegnete: "Ich will nicht respektlos sein zu einem Spieler, schon gar nicht zu so einem verdienten. Wir haben seit langer Zeit nichts mehr gewonnen.
Diese Spieler waren davon ein Teil. Sie wissen, wie hart es ist bei diesen
Turnieren." Diesmal erscheint es für England besonders hart. Die Three Lions
stehen zwar im Halbfinale, doch vor allem in den K.o.-Partien spielte Glück eine
große Rolle. England rumpelt durchs Turnier und hat noch keinen einzigen
sehenswerten Auftritt hingelegt.

Endet Kanes Titellosigkeit in Berlin?

Für Kane könnte sich die Geschichte in diesen Tagen in seiner Wahlheimat
tatsächlich auf ganz kuriose Weise umkehren. Seine Karriere lang schoss der
Stürmer Tor um Tor, stellte Bestmarken auf - und ging am Ende wieder leer aus.
Selbst Dauermeister FC Bayern wurde in der abgelaufenen Spielzeit plötzlich als
nationaler Champion von Bayer Leverkusen abgelöst. Und das, obwohl Kane in
seiner ersten Saison 36 Bundesliga-Tore erzielte.

Diesmal sind die Engländer allen Zweifeln und Zweiflern zum Trotz ganz nah
am Silberpokal. Und das, obwohl Kane angeschlagen aussieht, Bellingham
überspielt wirkt und das Milliardenensemble nur Fußball auf Sparflamme anbietet.
Noch zwei Siege, dann könnte Kapitän Kane am Sonntag den Pokal in den Berliner
Nachthimmel recken./pre/DP/zb

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