16.06.2024 14:38:58 - dpa-AFX: POLITIK: Bundestagsvize Petra Pau für Volksabstimmung über das Grundgesetz

BERLIN (dpa-AFX) - Bundestagsvizepräsidentin Petra Pau wirbt für eine
Volksabstimmung über das Grundgesetz, um den Rückhalt für die Demokratie
bundesweit zu stärken. "Es geht darum, das Grundgesetz als gemeinsame Grundlage
nochmals zu verankern", sagte die Linken-Politikerin in einem Interview der
Deutschen Presse-Agentur. "Das Grundgesetz mittels einer Volksabstimmung in eine
deutsche Verfassung zu verwandeln, könnte ein kluger Weg sein, das Bewusstsein
über die Grundwerte unseres Gemeinwesens zu schärfen."

Pau äußerte sich vor dem Hintergrund der Wahlerfolge der AfD vor allem in
Ostdeutschland. Die Ostberliner Bundestagsabgeordnete sieht Versäumnisse im
Vereinigungsprozess 1990, als die damalige DDR über Artikel 23 dem
Geltungsgebiet des westdeutschen Grundgesetzes beitrat. Nicht genutzt wurde
Artikel 146. Dieser sieht bis heute vor, dass das Grundgesetz ungültig wird, "an
dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in
freier Entscheidung beschlossen worden ist".

"Nach der Deutschen Einheit wäre die Chance da gewesen für Ost und West und
Nord und Süd, sich eine Verfassung anzueignen mit einer Volksabstimmung", sagte
Pau. "Wir haben viele Zeitpunkte verpasst. Jetzt sollte am Ende eines
Diskussionsprozesses zumindest die Streichung des Artikels 146 stehen." Damit
griff sie einen Vorstoß des ostdeutschen SPD-Politikers Markus Meckel auf, den
auch der thüringische Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linke) unterstützt.

Für eine Entscheidung noch vor der Bundestagswahl

"An vielen Stellen wird überhaupt nicht mitgedacht, dass es einen großen
Anteil in der Bevölkerung gibt, der eben nicht auf 75 Jahre Grundgesetz
zurückblickt, sondern erst auf 35 Jahre", sagte Pau. "Die meisten DDR-Bürger
hatten 1990 mit den Verhandlungen über den Einigungsvertrag nichts zu tun. Diese
Debatte wurde damals nicht geführt. Heute erlebe ich, dass viele Menschen sehr
wohl bereit sind, sich am Gespräch über die Demokratie und die Verfassung zu
beteiligen."

Mit wachsendem zeitlichem Abstand zu 1949 und 1990 scheine die Wertschätzung für die Demokratie als bestes aller politischen Systeme abzunehmen. "Das dürfen
wir nicht tatenlos hinnehmen", forderte Pau. "Eine Volksabstimmung zur Annahme
des Grundgesetzes als gesamtdeutsche Verfassung könnte ein sinnvoller Weg sein,
die Zustimmung zu unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung im Osten und
Westen wieder auszubauen."

Das müsse verbunden sein mit einem echten Dialogangebot an Bürgerinnen und
Bürger und einer Offensive in der politischen Bildung. Und es müsse schnell
gehen: "Möglicherweise wäre ein Verfassungskonvent das richtige Forum. Wichtig
ist aber, dass es sich nicht in die Länge zieht, sondern dass wir vor der
Bundestagswahl 2025 eine Entscheidung treffen."

"Gegen diesen Fatalismus des verlorenen Ostens"

An die Ampel-Koalition appellierte sie, ein angekündigtes Projekt
umzusetzen: "Ich möchte wirklich gerne noch erleben, dass das
Demokratiefördergesetz verabschiedet wird", sagte die Bundestagsvizepräsidentin.
"Wir sollten gegen diesen Fatalismus des verlorenen Ostens angehen. Es gibt
vielerorts eine vielgestaltige Zivilgesellschaft, Vereine und Initiativen."

Bei den Menschen in westlichen Bundesländern bat sie um Bereitschaft zum
Dialog: "Im Westen höre ich: "Ist es nicht langsam genug mit dem Osten?" Und
gleichzeitig fragen sich nach einer Wahl wieder alle, wie der Osten tickt und
was mit den Ostdeutschen los ist. Es gibt dort das Gefühl, übergangen worden zu
sein, nicht gefragt worden zu sein. Können wir endlich mal aufhören? Nein, wir
haben noch gar nicht angefangen."/vsr/DP/men

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