12.05.2024 14:54:51 - dpa-AFX: HINTERGRUND/Neuer UN-Vertrag: Was Biopiraterie mit Jeans und Süßstoff zu tun hat

GENF (dpa-AFX) - Viele Medikamente, Kosmetik und andere Produkte beruhen auf
den genialen Kräften der Natur. Indigene Völker nutzen solche Heilkräfte oft
seit Jahrtausenden - wenn Wissenschaft und Pharmafirmen sie aber entdecken,
weiterentwickeln, sich patentieren lassen und vermarkten, gehen sie leer aus.
Deshalb soll nach mehr als 20 Jahren Reden in Genf jetzt ein internationaler
Vertrag über Patentrechte an genetischen Ressourcen und traditionellem Wissen
verabschiedet werden. Die Schlussrunde der Verhandlungen beginnt am Montag (13.
Mai) bei der UN-Organisation für geistiges Eigentum (Wipo) in Genf.

Was haben Jeans und Süßmittel mit Biopiraterie zu tun?

Es sind Beispiele. Jeans: Eine Wissenschaftlerin hatte Anfang der 1990-er
Jahre eine Arbeit über Organismen aus einem Salzsee in Kenia veröffentlicht.
Einer davon produziert ein Enzym, das unter extremen Bedingungen arbeiten kann.
Chemieunternehmen machten daraus patentierte Bleichmittel, die heute weltweit
für den "stonewashed"-Effekt bei Jeans eingesetzt werden. Anwohner des Sees
haben nach jahrelangem Kampf von einigen Firmen schließlich Zahlungen erwirkt.
Süßmittel: Seit Jahren boomt das Süßen mit Stevia, einer Pflanze, die indigene
Völker in Paraguay und Brasilien seit Jahrhunderten verwenden. Firmen nutzen
Stevia in Marmeladen, Erfrischungsgetränken und vielem anderen. Sie haben sich
Patente auf Produkte aus dem Extrakt der Blätter gesichert. Die Stevia-Bauern im
Südamerika haben aber nichts davon.

Kann man sich denn Pflanzen oder Organismen patentieren lassen?

Nein. "Eine Pflanze, die in der Natur vorkommt, kann so nicht patentiert
werden", sagt Wend Wendland, der bei der Wipo die Abteilung für traditionelles
Wissen leitet. "Das geht nur, wenn Wissenschaftler sie verändern oder etwas
extrahieren und damit ein neues Produkt hergestellt haben." In Deutschland und
vielen westlichen Ländern ist der Zugang zu genetischen Ressourcen übrigens
frei. "Es steht jedem offen, aus Alpenkräutern ein medizinisches Produkt zu
machen", sagt Geoökologe Axel Paulsch der Deutschen Presse-Agentur, Vorsitzender
des deutschen Instituts für Biodiversität.

Was ist das grundlegende Problem?

Kritiker wie die Schweizer Nichtregierungsorganisation Public Eye sagen,
dass "westliche Firmen nach wie vor ungestraft mit "gestohlenen" Gütern
Geschäfte machen können". In einer an der Berliner Humboldt-Universität
geschriebenen Arbeit heißt es: "Die Abwertung nicht-westlichen Wissens und die
gleichzeitige Aneignung technologisch-kommerziell verwertbarer Teile dieses
Wissens ist eines der Kernkonzepte des europäischen Kolonialismus." Viele Länder
des globalen Südens mit großer Artenvielfalt sagen, wenn sie - anders als
Industrieländer früher - ihre Wälder erhalten und nicht abholzen sollen, müssen
sie mindestens an Profiten aus der Nutzung der darin enthaltenden genetischen
Ressourcen beteiligt werden.

Aber ist das nicht längst weltweit geregelt?

Im Prinzip ja: Vor zehn Jahren trat das internationale Nagoya-Protokoll in
Kraft. Es regelt eine Gewinnbeteiligung für ein Herkunftsland oder einen
besonderen Nutzen, wenn es Zugang zu genetischen Ressourcen gewährt, aus denen
ein vermarktbares Produkt entsteht. "Früher konnte man eine Heilpflanze etwa aus
Ecuador mitnehmen, untersuchen, welche Gene für die Heilung zuständig sind,
daraus ein Medikament machen und Ecuador hatte nichts davon. Das
Nagoya-Protokoll sorgt für einen gerechten Vorteilsausgleich", sagt Paulsch.

Allerdings sind die Verfahren kompliziert, nicht alle halten sich an
Vorschriften und die Überwachung funktioniert nicht. Mit dem Wipo-Vertrag wären
Firmen verpflichtet, bei der Anmeldung eines Patents anzugeben, wo ihr Material
ursprünglich herstammt. Damit könnten Herkunftsländer prüfen, ob alle
Genehmigungen eingeholt wurden. Umstritten ist unter anderem noch, ob Patente
entzogen werden können, wenn Verfahren verletzt wurden.

Was bedeuten solche Verträge für Patienten und Verbraucher? Gibt es deshalb
weniger Medikamente oder Kosmetika?

Für die Wissenschaft ist die Natur eine der wichtigsten Quellen für
Heilmittel. "Etwa 70 Prozent der Krebsmittel werden aus natürlichen Produkten
oder synthetischen Verbindungen nach dem Vorbild der Natur gewonnen", schreibt
die Weltgesundheitsorganisation (WHO). Dafür ist Forschung nötig. "Je mehr Daten
und Ressourcen wir haben, desto besser können wir unseren Job machen", sagt
Amber Scholz, Mikrobiologin beim Leibniz-Institut DSMZ -Deutsche Sammlung von
Mikroorganismen und Zellkulturen in Braunschweig, der Deutschen Presse-Agentur.
"Wenn die Nutzung von biologischer Vielfalt kompliziert wird, schränkt das
unsere Fähigkeit ein, gesellschaftliche Probleme zu lösen. Beispiel Impfstoff:
Wenn wir nicht schnell Material oder DNA-Sequenzen bekommen, gibt es keinen
schnellen Impfstoff." Nach ihren Angaben haben komplizierte Auflagen in einigen
Ländern in manchen Bereichen der Wissenschaft schon zu einer Abnahme der
Forschung und Kooperation geführt. "Wer weiß, was die Gesellschaft da verpasst
hat", so Scholz.

Ist die Wissenschaft also gegen alle Auflagen?

Nein. Scholz betont: "Wir kämpfen für maximale wissenschaftliche Freiheit,
aber uns ist klar, dass Ländern und Menschen, die früher ausgebeutet wurden,
faire Teilhabe zusteht. Wir bemühen uns, einen gemeinsamen Mechanismus
aufzubauen, der zukunftsfähig und gerecht ist." Paulsch sagt: "Die
Herausforderung ist, die Länder am Nutzen der Ressourcen zu beteiligen, ohne die
Auflagen so hart zu machen, dass praktisch keine Forschung mehr möglich ist."

Sind Verträge wie Nagoya oder jetzt bei der Wipo dann die Lösung aller
Probleme?

Leider nein. "Die neue Herausforderung sind gentechnische Verfahren, mit
denen Wirkstoffe einer Pflanze nachgemacht werden können", sagt Paulsch. "Wenn
die DNA entschlüsselt und in einer Datenbank verfügbar ist, braucht man die
Pflanze gar nicht mehr. Die große Frage: Soll das Herkunftsland der Pflanze
trotzdem einen Nutzen haben?" Fachleute sprechen dabei von "digitalen
Sequenzinformationen (DSI)". "Zurzeit kann jeder auf Sequenzen zugreifen und
damit machen, was er will", so Pausch. Weder das Nagoya-Protokoll noch der
Wipo-Vertrag beschäftigen sich damit. Für jede genutzte Sequenz mit einem Staat
über die Nutzung zu verhandeln, sei nicht praktikabel, sagt Paulsch. "Ein
Vorschlag ist, dass Firmen und Forschungseinrichtungen in einen Topf bezahlen,
wenn sie Sequenzen nutzen. Das Geld soll dann allen Ländern, die viele
genetische Ressourcen haben, zugutekommen." Für das Thema braucht es weitere
Verhandlungen./oe/DP/he

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