19.05.2024 14:53:46 - dpa-AFX: VERMISCHTES/Kloake statt Idylle: Warum Fäkalien Großbritanniens Küste verpesten

LONDON (dpa-AFX) - Die britische Königin Victoria (1819 - 1901) liebte das
Meer. Ihre "Bathing Machine", eine rollende Strandkabine die sie vor neugierigen
Blicken schützte, ist noch heute am Privatstrand ihres Landsitzes Osborne House
auf der Isle of Wight zu besichtigen. Doch wer heutzutage ganz in der Nähe ein
Bad im Meer nehmen will, könnte eine unverhoffte Begegnung mit etwas machen, von
dem er sich mit Betätigen der Klospülung vermeintlich für immer verabschiedet
hatte.

Die nahe "Queen Vickys" Domizil gelegene Cowes Beach ist der am stärksten
von ungeklärtem Abwasser verschmutzte Strand des ganzen Landes, wie eine Analyse
offizieller Daten durch die Umweltaktivisten Friends of the Earth offenbarte.
Demnach floss dort im vergangenen Jahr knapp 5000 Stunden lang Schmutzwasser ins
Meer.

Kleine Häufchen markieren verschmutzte Badestrände

Das ist alles andere als ein Einzelfall, wie ein Blick auf die Webseite
einer anderen Organisation zeigt: Die Surfer against Sewage (Surfer gegen
Abwasser) stellen eine Karte zur Verfügung, die anzeigt, wo gerade ungeklärtes
Abwasser ins Meer gelassen wurde. Kleine Häufchen markieren die Stellen, an
denen von einem Bad dringend abgeraten wird und das sind oft nicht wenige.

Allein in England wurden im Jahr 2023 mehr als 440 000 Stunden lang
ungeklärte Abwässer an der Küste ins Meer geleitet. Ein Viertel davon in der
Nähe von Badestränden.

Das Problem, gegen das Menschen am Wochenende an mehreren Orten
protestierten, ist nicht neu. Im Bericht zur Badewasserqualität der Europäischen
Umweltagentur EEA im Jahr 2020, dem letzten, in dem Großbritannien vor dem
Brexit noch enthalten war, nahm das Land den letzten Platz ein. Nur 17,2 Prozent
der Badegewässer wurden als exzellent bewertet. Im Vergleich dazu: In
Deutschland galt das für 89,9 Prozent der Gewässer und in Griechenland gar für
97,1 Prozent. Doch warum steht ausgerechnet Großbritannien so schlecht da?

Ungeklärtes Abwasser geht regelmäßig in Gewässer

Dass Schmutzwasser hin und wieder unbehandelt in Seen, Flüsse und
Küstengewässer gelangt, geschieht auch in Deutschland. Grund dafür ist, dass
besonders in großen Städten Schmutzwasser und Regenwasser oft in ein einziges
Kanalsystem fließen. Damit bei starken Regenfällen das Abwasser nicht wieder in
Häuser und auf Straßen gedrückt wird, und Kläranlagen nicht überlaufen, wird
durch den sogenannten Mischwasserüberlauf das Kanalisationssystem entlastet.
Dann fließt ein Mix aus ungeklärtem Abwasser und Regenwasser direkt in die
Natur. Das Problem: In Großbritannien ist das beinahe schon zur Regel geworden.
In manchen Fällen geschieht es sogar, wenn es nicht geregnet hat.

Grundsätzlich ist die Mischwasserkanalisation laut dem
Infrastruktur-Experten und Professor für Wirtschaftspolitik Dieter Helm von der
Universität Oxford aber nicht Kern des Problems. Tatsächlich wäre eine
flächendeckende getrennte Kanalisation gar nicht zu finanzieren - und auch nicht
notwendig, sagt er im Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur.

Dividenden wurden durch Kredite finanziert

Das Problem ist vielmehr, dass in den vergangenen Jahrzehnten in das
bestehende Abwassersystem trotz höherer Anforderungen und wachsender Bevölkerung
kaum investiert wurde. Der Grund dafür liegt laut Helm an einem katastrophalen
Versagen der Aufsichtsbehörden: Denn die Ende der 80er-Jahre privatisierten
Wasserversorger wurden nicht daran gehindert, statt zu investieren, fleißig
Dividenden an ihre Anteilseigner auszuschütten - sogar mit Geld, das aus
Krediten stammte.

"Das ist als würde man beim Fußball zuerst den eigenen Torwart vom Platz
nehmen und dann auf einen Schiedsrichter verzichten", sagt Helm, der in einem
insolvenzähnlichen Verfahren für den hoch verschuldeten Wasserversorger Thames
Water den einzigen Ausweg sieht. Doch das lehnen bislang beide große politische
Parteien in Großbritannien ab. Stattdessen verhandeln die Aufsichtsbehörden mit
den Wasserversorgern um Investitionsprogramme, die jedoch Preiserhöhungen von
bis zu 44 Prozent für Haushalte mit sich bringen sollen. Viele Briten empfinden
das als schamlos.

Pünktlich zum Start der Badesaison in Großbritannien Mitte Mai machte die
Nachricht Schlagzeilen, dass selbst der idyllische Lake Windermere im Lake
District mit Fäkalien verpestet wurde. In der Grafschaft Devon erkrankten durch
kontaminiertes Trinkwasser Dutzende Menschen an Durchfall und Übelkeit. Bis
Großbritanniens Fäkalien-Krise gelöst ist, dürften mindestens zehn Jahre
vergehen, glaubt Experte Helm./cmy/DP/he

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