19.06.2024 16:56:08 - dpa-AFX: POLITIK/ROUNDUP 5: Dreyer hört auf - 'Bin einfach nur müde'

(neu: Details)

MAINZ (dpa-AFX) - Die seit 33 Jahren in Rheinland-Pfalz regierende SPD
stellt sich neu auf und setzt weiter auf eine Doppelspitze. Ministerpräsidentin
Malu Dreyer kündigte am Mittwoch in Mainz nach elf Jahren im Amt ihren Rückzug
an. Die 63-Jährige begründete den Schritt am Mittwoch in Mainz damit, dass ihr
die Kraft ausgehe. Damit schrumpft auch die Zahl der Frauen im 16-köpfigen
Reigen der Länderregierungschef auf dann noch zwei - Manuela Schwesig in
Mecklenburg-Vorpommern und Anke Rehlinger im Saarland (beide SPD).

Nachfolger Dreyers an der Regierungsspitze soll der 50-jährige Arbeits- und
Sozialminister Alexander Schweitzer (SPD) werden, seine Wahl im Landtag ist am
10. Juli geplant. Die SPD-Fraktion sprach sich am Mittwoch Dreyer zufolge
einstimmig für ihn aus. Eine Frau wird in ein Partei-Spitzenamt aufrücken.
SPD-Fraktionschefin Sabine Bätzing-Lichtenthäler soll als Vorsitzende der
Landespartei auf Roger Lewentz folgen, voraussichtlich bei einem Parteitag im
November.

"Ich gehe mit schwerem Herzen"

Dreyer sprach von einer schweren Entscheidung. "Ich gehe mit schwerem
Herzen.", sagte sie. "Ich hatte keinen Grund verzagt zu sein. Ich bin einfach
nur müde, nicht amtsmüde. Die Kraft geht aus", erläuterte Dreyer sichtlich
bewegt. "Ich bin 63, also noch nicht uralt. Aber ich muss mir eingestehen, es
ist nicht mehr so wie mit 50." Weiter sagte Dreyer: "Meine Akkus laden sich
nicht mehr so schnell auf." Nach dem Amtswechsel wolle sie erstmal nichts tun
und ausruhen.

Die 63-Jährige hat Multiple Sklerose (MS), geht offen mit ihrer Krankheit
um, nannte sie aber nicht im Zusammenhang mit dem Rücktritt. Die Entscheidung
zum Rücktritt sei in den vergangenen Wochen gereift, getroffen habe sie sie vor
einigen Tagen, sagte Dreyer. Die Erkrankung war 1995 bei Dreyer diagnostiziert
worden, 2006 machte die Politikerin das öffentlich. MS ist eine entzündliche
Erkrankung, die das Zentrale Nervensystem betrifft, ihr Verlauf kann sehr
unterschiedlich sein.

Scholz nimmt Rücktritt mit "sehr großem Respekt" auf

Zahlreiche Spitzenpolitiker würdigten Dreyers Verdienste. SPD-Bundeschefin
Saskia Esken nannte sie "eine der erfolgreichsten Ministerpräsidentinnen
Deutschlands", Nordrhein-Westfalens CDU-Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU)
eine überzeugte und leidenschaftliche Demokratin. Bundeskanzler Olaf Scholz
(SPD) nahm den angekündigten Rücktritt "mit sehr großem Respekt" auf. "Er
schätzt sie sehr als verlässliche und volksnahe Politikerin, die sich nicht ohne
Grund hoher Beliebtheit erfreut", sagte die stellvertretende
Regierungssprecherin Christiane Hoffmann in Berlin.

Mit Blick auf ihren designierten Nachfolger in Rheinland-Pfalz sagte Dreyer, sie sei sich sicher, ihr Amt in die besten Hände zu geben. Schweitzer sei der
richtige Mann in diesem Moment. Als mögliche Nachfolger waren neben Schweitzer
auch Innenminister Michael Ebling (SPD) und die derzeitige
Landtagsfraktionschefin Bätzing-Lichtenthäler, die nun SPD-Landeschefin wird,
gehandelt worden. Zu Ebling sagte Dreyer am Mittwoch: "Jede Regierung braucht
einen starken Innenminister, in dieser Zeit sowieso."

Schweitzer sprach vom Ende einer Ära. "Es sind sehr große Fußstapfen, in die ich trete", sagte der über zwei Meter große Pfälzer. Es gebe einen
hervorragenden Koalitionsvertrag, den er weiter umsetzen wolle. Als andere
Persönlichkeit werde er auch andere Akzente setzen. Er wolle auch nach 2026 mit
der Ampel-Koalition weitermachen.

Der designierte Nachfolger Schweitzer sieht "Ende einer Ära"

Sein Nachfolger im Ministeramt steht noch nicht fest. Dafür sei es noch zu
früh, sagte Schweitzer. Eine Kabinettsumbildung werde es nicht geben. Der
Familienvater sagte mit Blick auf den Karrieresprung: "Meine Frau trägt es mit
großer Fassung. Wir kennen uns seit Schulzeiten." Mit Bätzing-Lichtenthäler
werde er gut zusammenarbeiten, er kenne sie bereits seit Juso-Zeiten.

Die Ankündigung Dreyers kommt anderthalb Wochen nach der Schlappe der
Sozialdemokraten bei der Europawahl und den Kommunalwahlen in Rheinland-Pfalz.
Die SPD war bei der Europawahl am 9. Juni im Land auf 17,5 Prozent abgesackt,
ein Minus von 3,8 Prozentpunkten. Bei den zeitgleichen Kommunalwahlen büßten die
Sozialdemokraten 2,4 Prozentpunkte ein und kamen landesweit auf 20,2 Prozent.

Dreyer betonte, dass die jüngsten Wahlergebnisse keine Rolle bei ihrer
Entscheidung gespielt hätten. Die Ahrtalflut von 2021 nannte sie eine
schmerzhafte Zäsur in ihrer Amtszeit, die Ihr Leben in eines davor und danach
unterteilt habe. Schweitzer kündigte an, der Wiederaufbau im Ahrtal werde ein
persönlicher Schwerpunkt seiner Amtszeit sein. Am meisten bedauere sie, dass es
nicht gelungen sei, den Einfluss der Nicht-Demokraten stärker zu begrenzen,
sagte Dreyer.

Politikwissenschaftler spricht von gutem Zeitpunkt

Schweitzer, bekennender Fan des 1. FC Kaiserslautern, hat nun die
Möglichkeit, als bereits profilierter Regierungschef in die nächste Landtagswahl
zu gehen, die turnusgemäß im Frühjahr 2026 sein wird. Politikwissenschaftler Uwe
Jun bescheinigte Dreyer, knapp zwei Jahre vor dem Urnengang einen guten
Zeitpunkt für den Rücktritt gewählt zu haben.

Dreyer ist seit 2013 Regierungschefin in Rheinland-Pfalz. In dem Amt folgte
sie damals auf Kurt Beck, führte zunächst eine rot-grüne Landesregierung an und
seit 2016 eine Ampel-Koalition aus SPD, Grünen und FDP, die - anders als die auf
Bundesebene - weitgehend geräuschlos agiert. Auch Beck hatte Dreyer -
überraschend - als seine Nachfolgerin vorgestellt - mehr als drei Jahre vor der
Landtagswahl 2016. Damals wie heute blieb die Entscheidung über den Wechsel an
der Spitze der Regierung bis kurz vor der Verkündung im inneren Kreis der
SPD./chs/DP/ngu

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