16.07.2024 14:23:20 - dpa-AFX: HINTERGRUND/Kindergrundsicherung mit Fragezeichen: Wird Reform zum Reförmchen?

BERLIN (dpa-AFX) - Noch ist das letzte Wort nicht gesprochen, noch liegt das
Projekt in den Händen der Abgeordneten. Seit Wochen versuchen sie, mit dem zu
arbeiten, was ihnen Familienministerin Lisa Paus (Grüne) hinterlassen hat. Einen
Gesetzentwurf zur Kindergrundsicherung, der sich als Dauerbaustelle entpuppt hat
und den SPD-Fraktionsvize Sönke Rix jüngst sogar als "nicht tragfähig"
bezeichnet hat. FDP-Finanzminister Christian Lindner erteilte dem ursprünglichen
Projekt bereits eine klare Absage. Es werde mit seiner Partei keine neue Behörde
"mit vielleicht 5000 Mitarbeitern" geben, stellte er klar.

Und so wird das Projekt für Kinder schon fast zum Symbol für den generellen
Zustand dieser Koalition: Status kompliziert - und Zukunft völlig unklar.

Grüne bevorzugen zentrale Auszahlungsstelle

Dabei hatte alles mit so viel Herzblut und gutem Willen begonnen. Die
Kindergrundsicherung sollte das große Projekt gegen Kinderarmut werden. Das
Hauptziel: Jedes Kind soll die staatlichen Leistungen erhalten, die ihm
zustehen. Dafür will die Ampel bisherige Leistungen bündeln und deutlich
unbürokratischer an Familien auszahlen. Die Botschaft: Ihr bekommt euer Geld -
und müsst euch dafür künftig nicht mehr so abmühen wie bisher. Also das, was
Ministerin Paus als "Bringschuld" des Staates bezeichnet hat. Ein Gedanke, für
dessen Umsetzung die Grünen am liebsten eine zentrale Auszahlungsstelle schaffen
würden.

Doch dafür gibt es hohe rechtliche Hürden - und es würde unter anderem
bedeuten, alle Kinder von Familien im Bürgergeld aus dem Bürgergeld-System
herauszuziehen, um sie separat mit den neuen gebündelten Leistungen zu
erreichen. Ein ganz schön komplizierter Weg für eine Reform, die eigentlich
alles einfacher machen soll.

Abruf von Kinderzuschlag deutlich gestiegen

Dabei sind die Mängel im aktuellen System nicht von der Hand zu weisen:
Immer wieder hatte Paus beispielsweise vorgerechnet, dass bislang nur ein
kleiner Teil der Familien ihren Anspruch auf den Kinderzuschlag geltend machen
würde. Das hat sich mittlerweile - wohl auch durch die öffentlichen Debatten -
geändert. Seit Oktober 2023 stieg die Zahl der Kinder, die den Zuschlag
erhalten, laut Ministerium auf mehr als eine Million. Im Juni 2024 seien es
schon 1,24 Millionen gewesen. Ende Dezember 2022 lag die Zahl noch bei knapp 800
000. Fast eine Verdopplung also, auf die insbesondere die Grünen gerne
verweisen. Mit dem Zusatz: Allein durch den Anstieg der Abrufzahlen sei ein Teil
der Kindergrundsicherung bereits erfüllt.

So ähnlich argumentierte auch kürzlich Vizekanzler Robert Habeck (Grüne),
der die Ausgestaltung der Reform mit einer Vase verglich: "Wichtig ist doch,
dass die Versorgung sichergestellt wird, also dass das Wasser in der Vase ist.
Welche Farbe die Vase hat, ist mir an dieser Stelle egal." Aber ist das wirklich
so? Und wird die Vase vielleicht doch noch grüner als gedacht? Die Fraktion, die
trotz aller Hürden immer noch am Kern des Projekts festhält, will sich
jedenfalls nicht entmutigen lassen.

Mehr Geld für Familien ab Januar 2025

Und immerhin: Zum 1. Januar 2025 sollen das Kindergeld und der
Kindersofortzuschlag für bedürftige Familien jeweils um fünf Euro steigen. Auch
den Kinderfreibetrag bei der Einkommensteuer will die Ampel anheben. Das ist
Teil der Einigung auf den Bundeshaushalt, der am Mittwoch das Kabinett passieren
soll. Und je nach Lesart ist damit bereits ein zentraler Bestandteil der
Kindergrundsicherung (FDP) erfüllt oder eine "erste finanzielle Grundlage"
(Grüne) gelegt. Doch was darauf folgen wird, ist noch in Arbeit.

Angedacht sind zunächst einmal ein "Kindergrundsicherungscheck" und ein
"Kinder-Chancenportal". Mit dem Check sollen Familien künftig schnell und
einfach erfahren, ob sie Anspruch auf Leistungen haben und wenn ja, auf welche.

Wie das Ministerium auf Anfrage mitteilt, soll der Check zunächst für alle
Neugeborenen bereitstehen. Das wären etwa 700 000 Kinder im Jahr. Die Familien
müssten zur Nutzung entweder ihr Einverständnis erklären oder sich aktiv
anmelden, heißt es. Aber: "Sie müssen dafür kein Antragsformular ausfüllen."

Hürden bei automatischem Abruf von Daten

Was völlig unklar bleibt: Welche Daten werden automatisch abrufbar sein,
damit das Ergebnis aussagekräftig ist? Aus Behördenkreisen heißt es, dass nur
die Einkommensdaten von Arbeitnehmern automatisiert verfügbar wären. Bei den
Einkünften von Selbstständigen könnten die "aktuellen" Daten zwei Jahre alt sein
und zu den Ausgaben von Familien lägen schlicht keine Daten vor. Immer wieder
ist die Frage zu hören, wo der Mehrwert bei einem automatisierten Leistungscheck
liegen soll, bei dem Familien sämtliche Dokumente dann doch noch selbst
einspeisen müssten. Das Paus-Ministerium erklärt auf seiner Webseite sogar
selbst, dass einige Ausgaben-Nachweise wie etwa Mietverträge oder Kontoauszüge
"der Verwaltung nicht vorliegen" würden.

Umsetzungshürden gibt es auch beim sogenannten Chancenportal - ein Liebling
der FDP. Die schöne Idee: Es gibt künftig ein Portal, auf dem Kinder Angebote,
etwa von Fußball- oder Musikvereinen im Ort, abrufen und sich per Klick dazu
anmelden können. Dann soll automatisch - quasi im Hintergrund - der staatliche
Teilhabebeitrag in Höhe von 15 Euro mit dem Preis des jeweiligen Angebots
verrechnet werden. Doch auch hier sind bislang wichtige Fragen offen: Wie
aufwendig wird es für Vereine, sich dort zu registrieren? Und wer entscheidet,
ob ein Angebot seriös ist? Es bleibt kompliziert.

Der Fairness halber sei aber auch hier noch mal betont: Noch liegen alle
Checks und Details in den Händen der Abgeordneten. Bis Ende des Jahres könnte es
Klarheit darüber geben, was wann kommt - und ob die bruchanfällige Vase halten
wird./faa/DP/jha

--- Von Fatima Abbas, dpa ---

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