20.05.2024 21:48:03 - dpa-AFX: ROUNDUP 4: Internationale Haftbefehle gegen Netanjahu und Hamas-Spitze beantragt

(aktualisiert mit deutscher Reaktion, Netanjahu und Knesset, sowie
Ramaphosa)

DEN HAAG (dpa-AFX) - Der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs
(IStGH) hat Haftbefehle gegen Israels Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu und
gegen den Anführer der Terrororganisation Hamas im Gazastreifen, Jihia
al-Sinwar, beantragt. Das teilte der Gerichtshof am Montag in Den Haag mit.

Chefankläger Karim Khan ermittelt seit Monaten wegen mutmaßlicher Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Zuge des Gaza-Krieges. Weitere Haftbefehle sollen
die Richter des IStGH Khan zufolge gegen Israels Verteidigungsminister Joav
Galant sowie Sinwars Stellvertreter Mohammed Deif und den Hamas-Auslandschef
Ismail Hanija verhängen. Beide Seiten reagierten empört auf Khans Anträge. Auch
aus den USA kam heftige Kritik.

Den Hamas-Führern wirft der Ankläger unter anderem "Ausrottung" sowie Mord,
Geiselnahme, Vergewaltigungen und Folter als Verbrechen gegen die Menschlichkeit
vor. Er forderte die Terrororganisation auf, alle israelischen Geiseln umgehend
freizulassen und für die "sichere Rückkehr zu ihren Familien" zu sorgen.

Ministerpräsident Netanjahu und Verteidigungsminister Galant werden von Khan unter anderem beschuldigt, für das Aushungern von Zivilisten als Methode der
Kriegsführung sowie für willkürliche Tötungen und zielgerichtete Angriffe auf
Zivilisten verantwortlich zu sein. Khan betonte zwar das Recht Israels, seine
Bevölkerung gegen alle Angriffe zu verteidigen. Er erklärte jedoch zugleich,
dieses Recht entbinde Israel nicht von der Pflicht, das humanitäre Völkerrecht
einzuhalten.

Auslöser des Gaza-Krieges war das beispiellose Massaker mit mehr als 1200
Toten, das Terroristen der Hamas und anderer Gruppen am 7. Oktober in Israel
verübt hatten. Im folgenden Krieg wurden nach Angaben der Gesundheitsbehörde
bisher 35 456 Palästinenser getötet, wobei die unabhängig kaum zu verifizierende
Zahl nicht zwischen Zivilisten und Kämpfern unterscheidet.

Ob die beantragten Haftbefehle erlassen werden, müssen nun die Richter der
Vorverfahrenskammer des IStGH entscheiden. Wenn sie die Tatvorwürfe als
bestätigt ansehen, kann das Hauptverfahren gegen die Beschuldigten eingeleitet
werden.

Israel kritisiert Antrag auf Haftbefehle

Israel kritisierte die Anträge gegen Netanjahu und Galant scharf.
Außenminister Israel Katz sprach von einer "skandalösen Entscheidung". Diese
stelle "einen frontalen, zügellosen Angriff auf die Opfer des 7. Oktober und
unsere 128 Geiseln in Gaza" dar. "Während die Mörder und Vergewaltiger der Hamas
Verbrechen gegen die Menschlichkeit gegen unsere Brüder und Schwestern begehen,
erwähnt der Chefankläger im gleichen Atemzug unseren Ministerpräsidenten und
Verteidigungsminister, neben den verabscheuungswürdigen Nazi-Monstern der Hamas
- eine historische Schande, die für immer in Erinnerung bleiben wird", sagte
Katz nach Angaben seines Büros.

"Das ist eine vollständige Verzerrung der Realität", sagte Netanjahu am
Abend in einer auf der Plattform X veröffentlichten Videobotschaft. Der
"absurde" und falsche Antrag richte sich nicht nur gegen ihn und Galant, "er
richtet sich gegen den gesamten Staat Israel". Der Antrag sei ein Beispiel eines
"neuen Antisemitismus", der von Universitätsgeländen nach Den Haag gezogen sei,
sagte Netanjahu mit Anspielung auf die propalästinensischen Proteste an
Hochschulen.

Israels Präsident Itzchak Herzog wies den Antrag auf Haftbefehl gegen
Netanjahu und Galant ebenfalls als "mehr als empörend" zurück. Der israelische
Oppositionsführer Jair Lapid sprach am Montag von einem "völligen moralischen
Versagen".

Auch die Abgeordneten der Knesset reagierten mit seltener Geschlossenheit.
Der Staat Israel befinde sich in einem gerechten Krieg gegen eine kriminelle
Terrororganisation, hieß es in der am Montagabend von 106 der 120 Abgeordneten
verabschiedeten Stellungnahme. Der Vergleich der israelischen
Regierungspolitiker mit Hamas-Terroristen sei skandalös und ein klarer Ausdruck
von Antisemitismus, so die Knesset-Abgeordneten. "Wir lehnen dies mit Abscheu
ab. 80 Jahre nach dem Holocaust wird niemand den jüdischen Staat daran hindern,
sich zu verteidigen."

Hamas fordert Strafverfolgung israelischer Befehlshaber

Die Hamas kritisierte ihrerseits die Anträge des Chefanklägers auf
Haftbefehle gegen ihre Anführer. "Seine Entscheidung vergleicht das Opfer mit
einem Henker und ermutigt die (israelische) Besatzung, den genozidalen Krieg
fortzusetzen", hieß es in einer Stellungnahme, die von dem Hamas-nahen TV-Sender
Al-Aksa verbreitet wurde. In einer weiteren am Montagabend veröffentlichten
Stellungnahme forderte die Hamas zudem eine Strafverfolgung aller israelischen
Befehlshaber.

Auswärtiges Amt: "unzutreffende Eindruck einer Gleichsetzung"

Das parallele Vorgehen des IStGH-Chefanklägers gegen die Hamas und gegen
Israel hat nach Einschätzung des Auswärtigen Amts ein falsches Bild entstehen
lassen. "Durch die gleichzeitige Beantragung der Haftbefehle gegen die
Hamas-Führer auf der einen und die beiden israelischen Amtsträger auf der
anderen Seite ist der unzutreffende Eindruck einer Gleichsetzung entstanden",
sagte ein Sprecher am Montag in Berlin. "Jedoch wird das Gericht nun sehr
unterschiedliche Sachverhalte zu bewerten haben, die der Chefankläger in seinem
Antrag ausführlich dargestellt hat."

Auch aus den USA kam heftige Kritik am Vorgehen des Chefanklägers des IStGH. Israel und die islamistische Hamas dürften nicht gleichgestellt werden, teilte
US-Präsident Joe Biden am Montag mit. Man werde Israel immer bei Bedrohungen
gegen die Sicherheit des Landes zur Seite stehen, so Biden weiter. Ähnlich
äußerte sich US-Außenminister Antony Blinken. Dass Haftbefehle für hochrangige
israelische Beamte zusammen mit Haftbefehlen für Hamas-Terroristen beantragt
worden seien, sei "beschämend".

Zuvor hatte bereits Österreichs Regierungschef Karl Nehammer (ÖVP) auf der
Plattform X moniert, "dass die Anführer der Terrororganisation Hamas, deren
erklärtes Ziel die Vernichtung des Staates Israels ist, in einem Atemzug genannt
werden mit demokratisch gewählten Vertretern eben dieses Staates". Österreich
gehört zu den Ländern, die das Selbstverteidigungsrecht Israels im Gaza-Krieg
besonders betonen.

Südafrika begrüßt Vorgehen des Chefanklägers

Der südafrikanische Präsident Cyril Ramaphosa hingegen begrüßte das Vorgehen des Chefanklägers. Südafrika hatte den Internationalen Strafgerichtshof
wiederholt zu Maßnahmen gegen Israel aufgefordert und dem Land Völkermord
vorgeworfen.

Haftbefehle würden Bewegungsfreiheit einschränken

Es wird davon ausgegangen, dass Sinwar und Deif sich seit Beginn des
Gaza-Kriegs vor mehr als sieben Monaten im unterirdischen Tunnelsystem der Hamas
im Gazastreifen versteckt halten. Hanija führt dagegen Berichten zufolge mit
einem Teil seiner Familie seit Jahren ein Luxusleben in Katar.

Das Gericht hat zwar keinerlei Möglichkeiten, Haftbefehle selbst zu
vollstrecken. Jedoch ist die Bewegungsfreiheit der Gesuchten dadurch erheblich
eingeschränkt ist. Denn im Falle von Haftbefehlen sind alle Vertragsstaaten des
Gerichts verpflichtet, die Beschuldigten festzunehmen und nach Den Haag zu
überstellen, sobald sie sich in ihrem Land befinden. 139 Staaten weltweit haben
das Römische Statut - die vertragliche Grundlage des IStGH - unterzeichnet, 124
davon haben es ratifiziert, auch Deutschland. Israel gehört neben den USA,
Russland und China zu den Staaten, die das Gericht nicht anerkennen. Aber die
palästinensischen Gebiete sind Vertragsstaat. Daher darf der IStGH-Ankläger auch
ermitteln./pau/DP/he

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