03.05.2024 16:52:14 - dpa-AFX: ROUNDUP/'Nicht schlecht, sondern furchtbar': Debakel für Sunak bei Lokalwahlen

(neu: aktuelle Ergebnisse)

LONDON (dpa-AFX) - Von einem konservativen Kollaps ist bereits die Rede. Die Tory-Partei des britischen Premierministers Rishi Sunak steuert mit einer
verheerenden Niederlage bei Kommunalwahlen in England auf das Ende ihrer
Regierung zu. "Die Ergebnisse sind nicht nur schlecht für die Tories und Rishi
Sunak, sie sind furchtbar", sagte der Politologe Tim Bale von der Queen Mary
University of London am Freitag der Deutschen Presse-Agentur. Die Wahl galt als
Stimmungstest für die anstehenden britischen Parlamentswahlen.

Schon am Morgen sagte der Wahlforscher John Curtice von der Glasgower
University of Strathclyde der BBC, die Tories seien auf Kurs, eines ihrer
schlechtesten Ergebnisse seit 40 Jahren einzufahren. Bis zum Nachmittag
verfestigte sich das Bild an einem schwarzen Freitag für die Konservativen.
Hinzu kam eine Pleite bei einer Nachwahl zum britischen Parlament. Sunaks Partei
verlor das Mandat im nordwestenglischen Wahlkreis Blackpool South an die
Oppositionspartei Labour - der Umschwung von 26 Punkten zu den Sozialdemokraten
war der drittgrößte bei einer Nachwahl seit dem Zweiten Weltkrieg.

Kommentatoren betonten, Kommunalwahlen seien nicht vergleichbar mit
Parlamentswahlen. Aber auch eine nationale Umfrage des
Meinungsforschungsinstitut Yougov sieht Sunaks Konservative im freien Fall: nur
noch 18 Prozent, Labour kommt demnach auf 44 Prozent. Für Labour-Chef Keir
Starmer Beleg für einen Stimmungswechsel: "Wir haben 14 Jahre des Scheiterns und
des Niedergangs erlebt, und die Tories haben uns nur Chaos und Spaltung
hinterlassen."

Zu denken geben dürfte Sunak auch die Konkurrenz der rechtspopulistischen
Partei Reform UK. In Blackpool South landete die einstige Brexit-Partei nur gut
100 Stimmen hinter den Konservativen auf Platz drei. Auch bei den Lokalwahlen
erzielte Reform UK, einst von Brexit-Vorkämpfer Nigel Farage gegründet,
teilweise beachtliche Resultate und kostete die Konservativen zahlreiche Sitze.

Bis zum Freitagnachmittag waren noch nicht alle Stimmen ausgezählt. Mit
Interesse wurde erwartet, ob es Labour gelingen würde, die Region West Midlands
zu erobern. Für sich entschieden haben die Sozialdemokraten bereits die neu
gegründete Region York and North Yorkshire, in der Sunaks eigener Wahlkreis
liegt. "Keir Starmers Labour-Partei gewinnt jetzt in Sunaks Hinterhof", höhnte
ein Labour-Sprecher. Auch in der Hauptstadt London galt Labour-Amtsinhaber Sadiq
Khan als Favorit. Hier wird das Resultat erst an diesem Samstag erwartet.

Allerdings konnten die Konservativen die Region Tees Valley im Nordosten
halten. Bürgermeister Ben Houchen hatte im Wahlkampf jede Annäherung an die
Partei vermieden, wie Kommentatoren bemerkten. Ein Achtungserfolg gelang den
Tories in Harlow. Einen Sieg in dem Ort nördlich von London hatte Labour-Chef
Keir Starmer kürzlich als zentral mit Blick auf die Parlamentswahl bezeichnet.

Gaza-Krieg als schwieriges Thema für Labour

Auch in Bezirken mit einer hohen muslimischen Bevölkerung musste Labour
Verluste hinnehmen. Hier wird den Sozialdemokraten, die traditionell den
Palästinensern nahestehen, vorgeworfen, das israelische Vorgehen im Gazastreifen
nicht scharf genug zu kritisieren. Davon profitierten kleinere Parteien oder
Unabhängige. Bei der Parlamentswahl dürften die Einbußen aber geringer
ausfallen. "Die Wähler lieben Labour nicht", fasste der Politologe Mark Garnett
von der Universität Lancaster im dpa-Gespräch die Resultate zusammen. "Aber die
Tories sind toxisch."

Seit 14 Jahren sind die Konservativen an der Macht. Doch die vergangenen
Jahre mit häufigen Wechseln an der Spitze sowie dem Chaos unter Sunaks
Vorgängern Boris Johnson und Liz Truss haben das Vertrauen in die Partei
erschüttert.

Das Ergebnis der Kommunalwahl könnte die politische Zukunft von Sunak
beeinflussen, der seit Oktober 2022 im Amt ist. Die Briten müssen spätestens im
Januar 2025 ein neues Parlament wählen, der Premier hat einen Termin in der
zweiten Jahreshälfte in Aussicht gestellt. Die Unsicherheit bestimmt den
politischen Diskurs seit Monaten. Vor allem vom rechten Parteiflügel war Sunak
immer wieder mit einer Revolte gedroht worden, dabei spielte auch das
Abschneiden bei der Kommunalwahl eine Rolle.

In Großbritannien steht nun ein langes Wochenende an. Zeit für Abgeordnete,
darüber nachzudenken, wie es weitergehen soll. Tory-Generalsekretär Richard
Holden warnte vor unüberlegten Schnellschüssen. Tatsächlich scheint eine Revolte
nicht unmittelbar. Die parteiinterne Sunak-Kritikerin Andrea Jenkyns, die seit
Längerem den Rücktritt des Premiers verlangt, nannte ein Misstrauensvotum in der
Fraktion unwahrscheinlich. Allerdings forderte sie eine Kabinettsumbildung, um
konservative Positionen deutlicher zu machen.

Für Sunak dürfte die Zeit als Premier dennoch ablaufen. Die Ergebnisse
stützten die Umfragen, dass Labour bei der Parlamentswahl auf Kurs für eine
deutliche Mehrheit ist, sagte Politikwissenschaftler Bale. Deutlicher wurde der
Abgeordnete Lee Anderson, der vor kurzem von den Tories zur rechten
Reform-Partei wechselte. Er sagte dem Sender Sky News: "Rishi Sunak könnte über
Großbritannien fliegen und eine Million Pfund in jeden Schornstein werfen. Sie
würden ihn trotzdem abwählen."/bvi/DP/stw

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