29.04.2024 16:17:06 - dpa-AFX: POLITIK: Die Putschpläne um Prinz Reuß - 'Reichsbürger'-Prozess gestartet

STUTTGART (dpa-AFX) - Irre Verschwörungstheoretiker? Harmlose
Staatskritiker? Gefährliche Putschisten? Es ist unmöglich, in den Kopf der
Männer zu blicken, die da an diesem Montag im streng gesicherten Saal des
Oberlandesgerichts Stuttgart hinter dickem Panzerglas sitzen. Klar ist: Sie
wirken alles andere als eingeschüchtert. Mit breiter Brust lassen sie sich in
Handschellen in den Saal führen. Sie tuscheln miteinander auf der Anklagebank,
schmunzeln, winken ins Publikum, nur wenige von ihnen verstecken ihr Gesicht vor
den Fotografen. Bei der Verlesung der Anklage schütteln sie immer wieder den
Kopf - als ob sie die Vorwürfe nicht ernst nehmen könnten. Es geht um
Terrorismus und Hochverrat, um "Reichsbürger", Putschpläne und
Verschwörungsmythen.

Am Montag hat mit dem Terrorprozess gegen die mutmaßliche Verschwörergruppe
um Heinrich XIII. Prinz Reuß vor dem Stuttgarter Oberlandesgericht ein
historisches Verfahren begonnen. Die Verdächtigen sollen einen gewaltsamen
Umsturz der Bundesregierung geplant haben, einen Anschlag auf die Herzkammer der
Demokratie. Es ist einer der größten Terrorprozesse in der Geschichte der
Bundesrepublik, auch Verfahren in Frankfurt und München stehen bald an.

Die Männer auf der Anklagebank, sie wirken nicht wie Terroristen, so mancher eher wie ein Versicherungsvertreter. Doch das Bild, das die
Generalbundesanwaltschaft von der Gruppe zeichnet, ist düster: Da ist von einer
tiefen Ablehnung der freiheitlichen Grundordnung die Rede, davon, dass man die
Ordnung der Bundesrepublik Deutschland gewaltsam beseitigen wollte. Die
Angeklagten sollen sich verpflichtet haben zur "Reaktivierung Deutschlands",
eine Verschwiegenheitserklärung unterzeichnet haben - unter Androhung der
Todesstrafe. Eine bewaffnete Gruppe sollte in den Reichstag eindringen.
"Säuberungen" und "Aufräumarbeiten" sollen geplant gewesen sein. Von
Feindeslisten ist die Rede, mit den Namen von Landräten, Amtsärzten,
Gerichtsvollziehern.

Aber auch die Narrative des QAnon-Kults spielen in der Anklage eine
bedeutende Rolle, die feste Überzeugung, dass verschwörerische Eliten die
Geschicke der Welt lenken, diese den rituellen Missbrauch von Kindern in
unterirdischen Tunneln praktizieren und aus den Kinderkörpern "Verjüngungskuren"
gewinnen. Die Angeklagten hätten diese Verbrechen aufdecken wollen, sie hätten
darauf vertraut, dass die Bevölkerung dann aufwachen und ihre Machtübernahme
unterstützen werde, so trägt es die Anklagebehörde vor.

Wie gefährlich sind diese Männer wirklich? Diese Frage schwebt über den
Verfahren, die sehr lange gehen dürften. In Stuttgart geht es vor allem um den
militärischen Arm der Gruppe, der die Machtübernahme mit Waffengewalt hätte
durchsetzen sollen. Insgesamt neun Männer, allerdings nicht Reuß selbst, müssen
sich in Stammheim verantworten - dort, wo einst bereits die RAF-Spitze vor
Gericht stand.

Den Männern, zwischen 40 und 60 Jahre alt, wird die Mitgliedschaft in einer
terroristischen Vereinigung vorgeworfen und die sogenannte "Vorbereitung eines
hochverräterischen Unternehmens". Einer der Angeklagten steht zudem wegen
versuchten Mordes vor Gericht - es handelt sich um den Mann, der im März 2023
bei der Durchsuchung seiner Wohnung in Reutlingen mehrfach mit einem Gewehr auf
Polizisten eines Spezialeinsatzkommandos geschossen und dabei Beamte verletzt
haben soll.

Der Prozess verheißt Spannung: Zwei der Männer sagten bereits am Montag,
dass sie sich zu den Vorwürfen äußern wollen. Wann sie aussagen werden, ist noch
unklar. Ein weiterer Angeklagter kündigte an, zumindest Angaben zur Person
machen zu wollen. Die restlichen sechs Angeklagten wollen zunächst überhaupt
keine Angaben machen.

Die Gruppe um Heinrich XIII. Prinz Reuß war nach einer großangelegten
Anti-Terror-Razzia in mehreren Bundesländern und im Ausland kurz nach dem
Nikolaustag 2022 bekannt geworden. Als Oberhaupt einer neuen Staatsform hätte
Reuß fungieren sollen. Die frühere AfD-Bundestagsabgeordnete und ehemalige
Berliner Richterin Birgit Malsack-Winkemann hätte für das Ressort Justiz
zuständig sein sollen. Auch Ex-Soldaten gehören zu den Beschuldigten. Laut
Anklage ist schon mit dem Aufbau eines deutschlandweiten Systems von mehr als
280 militärisch organisierten Heimatschutzkompanien begonnen worden.

Der Aufbau dieser Verbände war nach Angaben der Bundesanwaltschaft bereits
teils weit fortgeschritten. In zwei Fällen hätten die sogenannten
Heimatschutzkompanien selbst aktiv werden können, sagte ein Vertreter der
Behörde bei der Verlesung der Anklage. Innerhalb der "Kompanie 221", die für die
Bereiche Tübingen und Freudenstadt in Baden-Württemberg habe zuständig sein
sollen, seien etwa bereits Verantwortliche für die Rekrutierung weiteren
Personals benannt worden.

In der "Reichsbürger"-Szene herrscht die Ansicht vor, das 1871 mit einem
Kaiser an der Spitze gegründete historische Deutsche Reich bestehe heute noch
fort. Der Fall um Prinz Reuß ist in drei Verfahren aufgesplittet - aus
praktischen Gründen und aufgrund der schieren Anzahl der Verdächtigen. In
Frankfurt sind ab dem 21. Mai die mutmaßlichen Rädelsführer, darunter Reuß,
angeklagt. In München stehen ab dem 18. Juni die übrigen mutmaßlichen Mitglieder
vor Gericht.

Einige der insgesamt 22 Verteidiger in dem Stuttgarter Verfahren
kritisierten am Montag die Aufsplittung des Falls auf die drei
Oberlandesgerichte. Sie beantragten die Einstellung oder Aussetzung des
Stuttgarter Verfahrens und eine Zusammenlegung der drei Prozesse. Eine effektive
Strafverteidigung sei nicht möglich, weil die Erkenntnisse in einem Prozess nur
schwer in die anderen einließen könnten. Die Bundesanwaltschaft sei in allen
drei Verfahren stets präsent, den Verteidigern sei dies jedoch schon logistisch
nicht möglich, so die Argumentation - das verstoße gegen den "Grundsatz der
Waffengleichheit". Der Vorsitzende Richter Joachim Holzhausen wies den Antrag
auf Aussetzung des Verfahrens zurück. Die Forderung nach einer Zusammenlegung
der drei Prozesse werde zurückgestellt.

Ansonsten ging es bereits zum Prozessauftakt recht kleinteilig in die
Details - etwa ging es länger um die Sitzordnung im Saal und um die Frage, wie
den Angeklagten in der Haft Informationen wie Audiomitschnitte zur Verfügung
gestellt werden könnten. Kommende Woche soll der Prozess fortgesetzt werden. Das
Gericht hat Termine bis 2025 angesetzt - aus Sicht von Beobachtern dürfte das
nicht reichen./dna/poi/DP/jha

© 2000-2024 DZ BANK AG. Bitte beachten Sie die Nutzungsbedingungen | Impressum
2024 Infront Financial Technology GmbH