01.05.2024 09:32:23 - dpa-AFX: KORREKTUR: Bevölkerungsschwund? Der Osten trotzt und lockt

(Im 6. Absatz, 2. Satz wurde die Jahreszahl korrigiert: 2040 rpt 2040)

SANGERHAUSEN (dpa-AFX) - Der Wohnraum erschwinglich, das Internet schnell,
die Autobahn gut erreichbar und die Kinder betreut: Im Landkreis
Mansfeld-Südharz in Sachsen-Anhalt lässt es sich gut leben. Das meint zumindest
Landrat André Schröder. "Es gibt natürlich auch Probleme, aber die gibt es
überall. Wir müssen uns überhaupt nicht verstecken", sagt der CDU-Politiker,
selbst ein Kind der Region. Bloß nicht von anderen herunterziehen lassen, die
das Gegenteil behaupten, scheint seine Devise.

Jüngste Zahlen der Bertelsmann Stiftung malen jedoch nirgends in Deutschland ein düstereres Bild als in Mansfeld-Südharz. Zwischen 2020 und 2040 soll die
Bevölkerungszahl dort demnach um 21,1 Prozent schrumpfen. Gleichzeitig werde der
Anteil der Älteren immer größer, das Thema Strukturwandel immer drängender - in
Mansfeld-Südharz und in anderen Regionen Ostdeutschlands. Viele westdeutsche
Regionen sollen hingegen wachsen. Wie umgehen mit solchen Prognosen?

Die Zahlen prognostizieren Stillstand

Landrat Schröder trotzt ihnen auch mit Kritik: "Die nach Weltuntergang
klingenden Szenarien sind schon in der Vergangenheit nie eingetroffen - und
werden es auch in Zukunft nicht", ist er sich sicher. Damit ist er nicht allein.
"Die Studien werden ja regelmäßig erstellt und die sind immer falsch gewesen",
kommentierte Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haseloff (CDU) in der
Talkshow von Markus Lanz (11. April). Die Zahlen zeigten, was sein werde, "ohne
dass sich irgendwas bewegt".

Es sollte sich also was bewegen. Ein Beispiel für Bewegung - für das
Anpassen an die Bedürfnisse der Bürgerinnen und Bürger - soll in
Mansfeld-Südharz der Familienbesuchsdienst sein. Frisch gebackene Eltern werden
von ihm nach der Geburt kontaktiert. Das Angebot: ein Besuch von Ivonne Wehde
und Daniela Kunze. Im Gepäck haben sie ein offenes Ohr und einen Ordner voll mit
den Leistungen des Landkreises.

Katharina Otto wohnt mit ihrem Mann in Questenberg, einem Ortsteil der
Gemeinde Südharz. Rund 130 Einwohner zählt das Dorf. Vor einigen Monaten ist
Ottos Tochter Ronja hinzugekommen. In wenigen Wochen soll das Baby mit auf eine
Wanderung. Wo gibt es Trageberatung? Und wer bietet eigentlich Kinderschwimmen
an? Fragen, auf die Kunze und Wehde Antworten haben.

Sachsen lockt ebenfalls

Auch Sachsens Bevölkerung wird in den nächsten Jahren immer älter und
kleiner. Minus 5,7 Prozent bis 2040, sagt die Bertelsmann Stiftung. Das sind 230
000 Menschen weniger als noch 2020.

Besonders vom Bevölkerungsrückgang betroffen ist in Sachsen das Erzgebirge.
Im Erzgebirgskreis mit seinen gut 327 000 Einwohnern wird ein Rückgang um fast
ein Fünftel (19,1 Prozent) erwartet. Für viele Unternehmen ein echtes Problem.
Schon jetzt halten etliche Hotels und Gaststätten ihren Betrieb verstärkt mit
Fachkräften aus Tschechien am Laufen.

Um gegenzusteuern, wirft die Wirtschaftsförderung ihre Angel in verschiedene Richtungen aus. Besonders im Fokus steht dabei Berlin. Dabei setzt sie auf
Humor, nimmt Klischees und Eigenheiten der Menschen im Erzgebirge auf die
Schippe. Etwa im Videoclip "Weit weg von allem: Erzgebirge", der auf Youtube gut
377 000 Mal geklickt wurde. In der pfiffigen Kampagne #Hammerleben wird zum
Beispiel mit dem Slogan "Unbezahlbar ist hier nur die Landschaft" auf niedrige
Mieten und Grundstückspreise bei gleichzeitiger Nähe zur Natur verwiesen. Oder
mit "Hammerjobs" die Breite der Wirtschaft von Handwerk bis Hightech
angepriesen.

"Wir wollen zeigen, dass man bei uns nicht nur Urlaub machen, sondern gut
leben und arbeiten kann", sagt Peggy Kreller vom Regionalmanagement-Team.
Zwischen Berlin und dem Erzgebirge gebe es eine emotionale Nähe, verbrächten
doch viele Berlinerinnen und Berliner hier ihre Ferien. Wer großstadtmüde sei,
könne nicht nur in Brandenburg nach einem ruhigeren Plätzchen zum Leben suchen,
so der Gedanke. Zudem wird regelmäßig um Rückkehrer gebuhlt, die bislang zur
Arbeit in andere Regionen pendeln oder ganz dorthin gezogen sind. Etwa mit einer
Job- und Karrieremesse zwischen Weihnachten und Neujahr, wenn es über die
Weihnachtstage viele in die Heimat zieht.

Um die Rückkehr oder einen Neustart im Erzgebirge zu erleichtern, gibt es
seit einigen Jahren auch ein Welcome Center. Im vergangenen Jahr hat es den
Angaben zufolge 163 Menschen und 72 Unternehmen beraten. Darunter waren 41
Rückkehrer, 35 Zuwanderer aus dem In- und 87 Zuwanderer aus dem Ausland.

Kopf hängen lassen ist auch in Thüringen keine Option

In Thüringen prognostizierte die Stiftung einen Rückgang von 10,9 Prozent
auf 1,89 Millionen Menschen. Besonders betroffen ist demnach der Landkreis Greiz
mit einem Minus von 19,5 Prozent. Die dortige Landrätin Martina Schweinsburg
(CDU) gibt sich gelassen: "Eine ähnliche Studie gab es vor 20 Jahren schon mal.
Dann haben meine Bürgermeister weitsichtig ihre Kindergartenplätze abgebaut, die
sie alle in den letzten Jahren wieder aufbauen mussten." Sie wolle die Zahlen
nicht ignorieren, damit aber sachlich umgehen. Der Kreis im Vogtland biete nicht
nur ein "tolles Kultur- und Freizeitangebot", sondern auch genügend
Arbeitsplätze, gute Schulen und günstigen Wohnraum.

Landesweit versucht die Thüringer Agentur für Fachkräftegewinnung seit
geraumer Zeit, Menschen in den Freistaat zu locken. Über
Informationsveranstaltungen wie etwa die "Pendler- und Rückkehrertage" wird
versucht, abgewanderte Menschen zu einer Rückkehr in den Freistaat zu bewegen.
Dazu bündelt die Agentur Tausende Jobangebote in Thüringen auf einer Homepage
und will so die Vermittlung von Arbeitskräften verbessern.

Noch einen Schritt weiter geht Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linke).
Zuletzt reiste der Regierungschef etwa nach Vietnam, um dort um junge Leute zu
werben. Bis zu 1000 von ihnen sollen nach seinem Willen jährlich eine
Berufsausbildung in Thüringen anfangen. Ende vergangenen Jahres waren demnach
über 700 junge Vietnamesinnen und Vietnamesen bereits in Thüringen in einer
Ausbildung.

In Ostdeutschland wird also nicht der Kopf hängen gelassen. Schlechten
Prognosen wird getrotzt und es wird zu sich gelockt. Der bundesweite Trend
verspricht Wachstum statt Schwund. Ob Statistiker oder die Politik Recht
behalten, wird sich erst in den nächsten Jahren zeigen. Bis dahin kann sich noch
einiges bewegen./ija/DP/jha

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