26.04.2024 14:23:50 - dpa-AFX: ROUNDUP 2/Habeck und Lemke unter Druck: Der neue Atomstreit

(neu: Details)

BERLIN (dpa-AFX) - In zwei Sondersitzungen von Bundestagsausschüssen haben
Wirtschaftsminister Robert Habeck und Umweltministerin Steffi Lemke (beide
Grüne) ihre Entscheidungen rund um den deutschen Atomausstieg verteidigt.
Vertretern der CDU/CSU-Bundestagsfraktion reicht das nicht. "Im Raum steht
weiter die begründete Annahme: Habecks Ministerium hat das Gegenteil dessen
gemacht, was der Minister öffentlich angekündigt hatte. Verdrehung von Fakten
statt ergebnisoffener Prüfung", sagte der Sprecher für Klimaschutz und Energie
der Unionsfraktion, Andreas Jung (CDU), der Deutschen Presse-Agentur in Berlin.

Der "Cicero"-Artikel

Auslöser der aktuellen Kontroverse ist ein Bericht des Magazins "Cicero",
wonach sowohl im Wirtschafts- als auch im Umweltministerium im Frühjahr 2022
interne Bedenken zum damals noch für den folgenden Jahreswechsel geplanten
Atomausstieg unterdrückt worden sein sollen - was beide Ministerien aber
bestreiten.

Wirtschaftsministerium wollte Unterlagen nicht herausrücken

Ein "Cicero"-Journalist erstritt die Herausgabe der Akten vor Gericht und
hat dem Magazin zufolge am Ende "zwei gut gefüllte Aktenordner" erhalten. Bis
dahin hatte Habecks Bundeswirtschaftsministerium nur einen Teil der geforderten
Dokumente übergeben und dies mit der Vertraulichkeit der Beratungen begründet,
wie im Urteil des Berliner Verwaltungsgerichts aus dem Januar dieses Jahres
nachzulesen ist. "Eine nachträgliche Herausgabe von vertraulich übermittelten
Informationen hätte zur Folge, dass künftig ein unbefangener Meinungsaustausch
nicht mehr möglich wäre", schreibt das Gericht über die Argumentation des
Ministeriums. Zudem werde die Rolle der Kernkraft medial und politisch
diskutiert.

Die Richter überzeugte das nicht. Das Ministerium konnte aus ihrer Sicht
nicht begründen, wieso die Veröffentlichung eine künftige Meinungsbildung
innerhalb der Bundesregierung beeinträchtigen würde.

Das kontroverse Papier

Mitarbeiter von Habecks Ministerium argumentierten im Entwurf eines Vermerks vom 3. März 2022, unter bestimmten Umständen könne eine begrenzte
Laufzeitverlängerung der verbleibenden deutschen Atomkraftwerke bis in das
folgende Frühjahr sinnvoll sein. Sie rieten dazu, diese Möglichkeit weiter zu
prüfen. Ein Aspekt, der in dem fraglichen Entwurf nicht diskutiert wurde, war
die Frage der Sicherheit des Weiterbetriebs. Es ging hier vorrangig um Fragen
der Energieversorgung. Das Papier liegt auch der Deutschen Presse-Agentur in
Berlin vor. In der Leitungsebene kannte das Dokument laut Ministerium nur
Staatssekretär Patrick Graichen, einem Parteifreund Habecks, der später nach
Vorwürfen der Vetternwirtschaft das Amt räumen musste - den Minister hätte es
damit nicht erreicht.

Nach Habecks Darstellung ist das aber kein Problem. "Mein Haus hat 2400
Mitarbeiter", sagte der Minister am Freitag. Die fachliche Diskussion sei
wichtig. Für ihn seien aber die Gespräche mit den Atomkraftwerks-Betreibern
ausschlaggebend gewesen. "Entscheidend ist, dass ich in den wirklich relevanten
Runden, und das sind die Runden mit den Versorgungsbetreibern, also RWE, ENBW
und Eon, immer die richtigen Fragen stellen konnte. Und da bin ich sicher, dass
die gestellt wurden." Die Betreiber hätten damals gesagt, die vorhandenen
Brennelemente seien bis Jahresende aufgebraucht. Später seien diese Angaben
korrigiert worden: "Da hieß es dann, die können doch noch zwei, drei, vier, fünf
Monate länger laufen. Und entsprechend wurde dann auch noch einmal die Laufzeit
verlängert."

Das Wirtschaftsministerium sagt zudem, das Papier sei eingeflossen in einen
später veröffentlichten Prüfvermerk der Ministerien für Wirtschaft und Umwelt,
in dem diese sich gegen eine Laufzeitverlängerung aussprachen - unter Verweis
auf die "sehr hohen wirtschaftlichen Kosten, verfassungsrechtlichen und
sicherheitstechnischen Risiken", wie es in einer Pressemitteilung hieß.

Warum 2022 wieder über den Atomausstieg diskutiert wurde

Auslöser für die neuerliche Debatte seinerzeit war der russische Angriff auf die Ukraine am 24. Februar 2022 und in der Folge eine dramatische
Verschlechterung der Beziehungen auch zwischen Deutschland und Russland.
Russland war damals Deutschlands wichtigster Gaslieferant. Die Frage, was das
für die Energiesicherheit hierzulande bedeuten würde, stand also im Raum. Ab
September floss dann praktisch kein russisches Gas mehr nach Deutschland.

Das Wirtschaftsministerium argumentierte noch im Sommer, dass Deutschland im Falle einer Gasknappheit ein Problem mit der Bereitstellung von Wärme hätte -
und nicht von Strom, den Atomkraftwerke liefern würden. FDP-Chef Christian
Lindner und Parteikollegen hielten dagegen: Selbst ein geringer Beitrag zur
Energiesicherheit sei relevant.

Beliebt war der Atomausstieg im Frühjahr 2022 nicht: In einer Umfrage des
Meinungsforschungsinstituts Civey aus dem März im Auftrag der "Augsburger
Allgemeinen" sprachen sich 70 Prozent der Befragten für eine
Laufzeitverlängerung aus. Im ARD-Deutschlandtrend vom April 2023 bewerteten 59
Prozent die Entscheidung für den Atomausstieg als falsch.

Ampel-Streit um die Atomkraft

Die Grünen, für die Anti-Atomkraft-Proteste früherer Jahre praktisch zum
Gründungsmythos gehören, sperrten sich lange gegen jeglichen Weiterbetrieb. Im
Oktober schließlich stellte sich ein Parteitag hinter Vorschläge Habecks, zwei
der letzten drei deutschen Atomkraftwerke über den Jahreswechsel hinaus in einer
Reserve zu halten und bei Bedarf kurzfristig wieder zur Stromerzeugung zu
nutzen. Doch erst ein Machtwort von Kanzler Olaf Scholz (SPD) zwei Tage später
für einen befristeten Weiterbetrieb bis Mitte April 2023 beendete den Streit.

Die Vorgeschichte

So sehr der Atomausstieg den Grünen am Herzen liegt - den Beschluss dafür
fasste eine schwarz-gelbe Bundesregierung unter der Führung von Angela Merkel
(CDU) nach der Atomkatastrophe von Fukushima 2011. Im Jahr 2022 waren noch drei
Meiler am Netz, Isar 2 in Bayern, Neckarwestheim in Baden-Württemberg und das
AKW Emsland in Niedersachsen. Ursprünglich hätten sie zum Jahreswechsel 2022/23
vom Netz gehen sollen - dies geschah dann erst einige Monate später, vor rund
einem Jahr am 15. April.

Die Preise

Laut dem Vergleichsportal Verivox sinken mit den Großhandelspreisen für
Strom auch die Verbraucherpreise wieder. Im Jahresvergleich seien diese im
Schnitt um 17 Prozent gesunken. Die Neukundenpreise für Strom sind im
Jahresvergleich demnach sogar um 25 Prozent gesunken und liegen mit 24,7 Cent
die Kilowattstunde wieder auf Vorkrisen-Niveau./hrz/DP/ngu

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