23.04.2024 17:27:21 - dpa-AFX: POLITIK/ROUNDUP 2: Wie fair ist das neue Wahlrecht? - Verhandlung in Karlsruhe

(neu: Anhörung der Sachverständigen ergänzt)

KARLSRUHE (dpa-AFX) - Hält die Wahlrechtsreform der Ampel-Regierung
verfassungsrechtlichen Bedenken stand? Das Vorhaben sollte unter anderem das
Anwachsen des Bundestags aufgrund von Überhangmandaten stoppen. Das
Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe nahm am Dienstag das neue
Bundeswahlgesetz, das schon im kommenden Jahr bei der Bundestagswahl angewendet
werden soll, ins Visier. Zum Auftakt der zweitägigen mündlichen Verhandlung
hagelte es von der Klägerseite scharfe Kritik. Unter anderem gehen die
bayerische Landesregierung, Bundestagsabgeordnete der CDU/CSU-Fraktion, die
Parteien CSU und Linke sowie eine Gruppe von mehr als 4000 Privatpersonen gegen
das neue Wahlrecht vor.

Das Gesetz mit seinen erheblichen Änderungen sei überstürzt verabschiedet
worden, ohne dass sich die Opposition hätte beraten können, sagte CDU-Chef
Friedrich Merz. Quasi auf den letzten Drücker habe die Ampel die sogenannte
Grundmandatsklausel gestrichen. Diese Klausel sorgte bisher dafür, dass eine
Partei auch dann im Bundestag vertreten war, wenn sie zuvor an der
Fünf-Prozent-Hürde gescheitert war, aber mindestens drei Direktmandate errungen
hatte. Kleinere Parteien wie CSU und Linke, die zu den Klägern der Reform
gehören, könnte der Wegfall der Grundmandatsklausel empfindlich treffen.

Bundesregierung will Bild vom "Bläh-Bundestag" entgegenwirken

Aufseiten der Bundesregierung betonte dagegen der Parlamentarische
Staatssekretär des Innenministeriums, Mahmut Özdemir (SPD), die Abgeordneten
seien Vertreter der ganzen deutschen Bevölkerung, nicht nur ihres Wahlkreises.
Es müsse etwas gegen das zunehmende Akzeptanzproblem der Bevölkerung - das der
SPD-Politiker etwa aus Bezeichnungen wie "Bläh-Bundestag" und "XXL-Bundestag"
herleitete - getan werden. Die Sperrklausel sei "unausweichlich".

Der Zweite Senat hatte viele Fragen. So sei beispielsweise zu klären, ob
diese Klausel möglicherweise strenger geprüft werden müsse. Ist die Sperrklausel
zu hoch, weil zu viele Wählerstimmen nicht im Bundestag repräsentiert sind?
Braucht es Ausnahmen von der Sperrklausel; vielleicht für Landesparteien, fragte
etwa die Berichterstatterin am Bundesverfassungsgericht, Astrid Wallrabenstein.
Auch sei zu überlegen, wie sich Wahlkreisbewerber von ihren Parteien
unterscheiden würden.

Experten warnen vor Legitimationseinbußen

Sachverständige äußerten sich teils sehr klar zu den Anforderungen an
demokratische Wahlen. Ein Wahlrecht solle von Dauer und nicht Ausdruck
temporärer Mehrheiten sein und einen fairen Wettbewerb zwischen den Parteien
ermöglichen, erklärte der Demokratieforscher Hans Vorländer. Wenn eine hohe Zahl
an Wählerinnen und Wählern nicht repräsentiert werde, büßten die demokratischen
Institutionen an Legitimation ein. Der Politikwissenschaftler Frank Decker
plädierte in diesem Zusammenhang klar dafür, die Sperrklausel von 5 Prozent
herabzusetzen - und damit den Anteil nicht berücksichtigter Stimmen abzusenken.

Direktkandidaten seien einem großen Teil der Wählerinnen und Wählern in den
Wahlkreisen gar nicht bekannt, sagte Decker. Entscheidend für ihre
Wahlentscheidung sei auch bei der Erststimme die Parteien- und nicht
Personenpräferenz - die meisten Wähler würden beide Stimmen daher derselben
Partei geben, sagte der Politologe Thorsten Faas. Und: den wenigsten Wählern sei
überhaupt der Unterschied zwischen den Stimmen bekannt. Viele wüssten nicht,
dass die Zweitstimme die entscheidende sei.

Bayern befürchtet verwaiste Wahlkreise

Mit der Neuregelung der Ampel soll die Zahl der Sitze im Bundestag auf 630
gedeckelt werden. Dafür sollen Überhang- und Ausgleichsmandate wegfallen, die
den Bundestag bisher immer weiter anwachsen ließen. Nach der letzten
Bundestagswahl zählte das Parlament 736 Abgeordnete. Für die Zahl der Sitze
einer Partei im Parlament ist künftig allein ihr Zweitstimmenergebnis
entscheidend - auch dann, wenn sie mehr Direktmandate geholt hat. Dann gehen die
Wahlkreisgewinner mit dem schlechtesten Erststimmenergebnis leer aus. Dies träfe
vor allem die Unionsparteien.

Den geplanten Wegfall der Überhangmandate kritisierte daher etwa die CSU
scharf. Wäre das neue Wahlrecht schon bei der letzten Bundestagswahl in Kraft
gewesen, hätten es von 46 gewonnen Wahlkreisen in Bayern sieben der
erfolgreichen Wahlkreisbewerber nicht in den Bundestag geschafft. "Das führt zu
Frust bei den Wählern", sagte der bayerische Innenminister und
Landtagsabgeordnete Joachim Hermann. Ganze Wahlkreise blieben verwaist, ganze
Regionen blieben mit ihren Anliegen im Bundestag dann unberücksichtigt.

Am Mittwoch soll weiterverhandelt werden. Ein Urteil aber dürfte erst in
einigen Monaten fallen - möglichst deutlich vor der nächsten anstehenden
Bundestagswahl im Herbst kommenden Jahres. Denn falls das oberste Gericht
Änderungen an der Reform einfordert, müssten diese noch eingearbeitet
werden./avg/jme/DP/ngu

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