23.04.2024 15:03:06 - dpa-AFX: HINTERGRUND: Einzelhandel schwächelt - Können sich die Innenstädte neu erfinden?

BERLIN (dpa-AFX) - Die Zahl der Einzelhandelsgeschäfte sinkt in Deutschland
seit Jahren, dennoch sind viele Innenstädte vor allem auf Shopping ausgelegt.
Die Leerstände sind nicht zu übersehen - schon bald dürften mit weiteren
Schließungen von Galeria-Filialen neue und große Lücken dazukommen. Der
Handelsverband Deutschland (HDE) warnte daher am Dienstag vor "Geisterstädten"
und rief die Bundesregierung zu einem Innenstadtgipfel auf. Bundesbauministerin
Klara Geywitz (SPD) betonte, dass in den Innenstädten das Angebot vielfältiger
werden müsse - die Menschen wünschten sich neben Shopping auch Bibliotheken,
Wohnungen sowie Kindergärten und Schulen in den Stadtzentren.

"Monokulturen sind anfällig für Krisen. Das gilt nicht nur für die Fichten
im Harz, sondern auch für den Immobilienmarkt und die Innenstadtentwicklung",
sagte die SPD-Politikerin bei einem Kongress zum Thema Handelsimmobilien in
Berlin. "Vielfältigere Angebote und Nutzungsmöglichkeiten bringen Stabilität."

Ricarda Pätzold vom Deutschen Institut für Urbanistik (difu) warb bei dem
Kongress dafür, bei der Transformation der Innenstädte experimentierfreudig zu
sein und im Kleinen mit dem Wandel zu beginnen. Es sei wichtig, dass Menschen
andere Zugänge zur Innenstadt fänden. "Warum ist zum Beispiel nicht der größte
und schönste Spielplatz in der Innenstadt?", fragte Pätzold. Ministerin Geywitz
berichtete von älteren westdeutschen Einkaufszentren, auf deren Dächern früher
Minigolf-Anlagen betrieben worden seien. "Heute sind die Dächer in der Regel
nicht genutzt. Ich glaube aber, sie haben noch ein gutes Potenzial für
Aufenthaltsqualität", sagte die SPD-Politikerin.

Innenstädte werden oft nach Einkaufsmöglichkeiten bewertet

Die Realität sieht in vielen Innenstädten anders aus. Vor allem in den
mittelgroßen Zentren reihen sich die immer gleichen Filialen großer
Handelsketten aneinander. Die meisten Flächen sind zubetoniert, Grün ist selten
zu finden. Zudem wird der Leerstand größer: Die Leerstandsquote in zentralen
Erdgeschosslagen der Innenstädte ist in den Krisenjahren 2022/2023 laut einer
Studie des Bundesinstituts für Bau-, Stadt- und Raumforschung auf 8 bis 10
Prozent angestiegen.

"Wir haben nicht das Frequenzniveau, das wir 2019, 2020 vor Augen hatten,
heute wieder erreicht. An einzelnen Standorten sicherlich, aber nicht
flächendeckend", sagte HDE-Hauptgeschäftsführer Stefan Genth zur Zahl der
Menschen in den Einkaufsstraßen. Es sei aber der Handel, der die Innenstädte
attraktiv mache. Aktuelle Studien bestätigten das zuletzt: Innenstädte werden
oft nach den Einkaufsmöglichkeiten bewertet, Einkaufen und Shopping werden immer
wieder als wichtigste Besuchsmotive genannt.

Seit 2015 rund 60 000 Einzelhandelsgeschäfte weniger

Und dennoch: Seit 2015 ist die Anzahl der Einzelhandelsgeschäfte in
Deutschland laut HDE von 372 000 auf 311 000 gesunken. Im laufenden Jahr rechnet
der Verband mit 5000 weiteren Schließungen. Die Unsicherheit der Branche
verstärkte sich zuletzt durch die erneute Insolvenz des Warenhauskonzerns
Galeria Karstadt Kaufhof. Die neuen Eigentümer wollen mindestens 70 der 92
Filialen übernehmen. Einige Städte müssen aber damit rechnen, dass die hiesige
Galeria-Filiale schließt.

Handelsverband für Zuschüsse und Ansiedlungsmanager

Im Kampf gegen den "Niedergang vieler Innenstädte" will der Branchenverband
nun die Politik in die Pflicht nehmen. Ein jährlicher Gipfel mit allen
Beteiligten könne die Abstimmung verbessern, meinte HDE-Präsident Alexander von
Preen.

Von Preen hält auch eine Gründungsoffensive für nötig. "Wir müssen die
Leerstände auch als Chance begreifen und Menschen ermutigen, ähnlich wie bei den
Gründerzentren auf der grünen Wiese, ihr eigenes Geschäft in der Innenstadt zu
eröffnen." Gründer sollten für maximal 60 Monate einen Zuschuss erhalten,
Ansiedlungsmanager könnten Leerstände erfassen und Nachmieter organisieren.

Wohnen im Zentrum? Achtung vor "innerstädtischen Zumutungen"

"Menschen wollen Menschen sehen", sagte difu-Expertin Pätzold zum Thema
Aufenthaltsqualität einer Innenstadt. Handel, Gastronomie, Medizin,
Dienstleistungen, Wohnen, Leben - all das gehöre zur Innenstadt. Die Frage sei
letztlich, wie diese Nutzungen in Zukunft zueinander in Beziehung ständen. Denn
sortiert und nebeneinander sei das im begrenzten Stadtzentrum nicht möglich.
Stadt sei eben auch das Durcheinander.

Beim viel diskutierten Thema Wohnen in der Innenstadt warnte sie, dass dafür neben dem Wohnraum auch eine große Toleranz für "innerstädtische Zumutungen"
wichtig sei, wenn in einem Stadtzentrum viel los sein soll.

Grundsätzlich brauche es für die Transformation aber einen anderen Ton beim
Thema Innenstädte. "Alle reden vom Bedeutungsverlust der Innenstädte, das ist
ein breit geteiltes Narrativ. Aber es ist ein Problem, wenn alle so auf die
Innenstädte schauen und es immer vor allem darum geht, ob man sie noch retten
kann", sagte Pätzold./nif/DP/mis

--- Von Fabian Nitschmann und Christian Rothenberg, dpa ---

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