16.04.2024 18:22:01 - dpa-AFX: HINTERGRUND 3/CO2-Ausgleich in der Kritik: Kann Erdgas klimaneutral sein?

(Aktualisierung: Mit Stellungnahme Logoenergie im 6. Absatz)

ESSEN/BERLIN (dpa-AFX) - Viele Gaslieferanten bieten sogenanntes
klimaneutrales Erdgas an, oft auch Klimagas genannt. Wählen Verbraucher einen
solchen Tarif, unterstützt das Unternehmen Klimaschutzprojekte in aller Welt.
"Wir kompensieren so das CO2, das du durch deinen Erdgasverbrauch freisetzt",
wirbt etwa ein Unternehmen. Solche Werbeaussagen hat das Recherchenetzwerk
Correctiv in vielen Fällen jetzt in Zweifel gezogen. Solche Gastarife und
-produkte seien oft weit weniger grün als versprochen.
Hunderttausende Kundinnen und Kunden seien getäuscht worden.

Was kritisiert Correctiv genau?

Unter Berufung auf Wissenschaftler wirft Correctiv bestimmten Gasversorgern
vor, zweifelhafte CO2-Gutschriften aus Klimaschutzprojekten genutzt zu haben.
Diese Projekte könnten nicht plausibel nachweisen, dass Emissionen tatsächlich
reduziert oder eingespart wurden. "Beispielsweise wird weniger Wald geschützt
als angegeben, weniger Emissionen als berechnet werden eingespart oder das
Projekt wäre auch ohne die Einnahmen aus dem Verkauf von CO2-Gutschriften
zustande gekommen", berichtete Correctiv am Dienstag. Überschrieben hat das
Recherchenetzwerk seinen Bericht mit "Die Ökogas-Lüge".

Um wie viele Unternehmen geht es?

Überprüft wurden laut Correctiv die CO2-Gutschriften von 150 deutschen
Gasversorgern zwischen 2011 und 2024 mit einem Volumen von insgesamt 16
Millionen Tonnen. 116 von ihnen sollen in diesem Zeitraum zweifelhafte
CO2-Gutschriften genutzt haben. Somit könnten über die Jahre insgesamt gut 10
Millionen Tonnen weniger CO2-Emissionen ausgeglichen worden sein als von den
Versorgern gegenüber Kunden behauptet, so Correctiv. Zur Einordnung: Allein 2022
wurden laut Landesumweltamt in Nordrhein-Westfalen Treibhausgase freigesetzt,
die der Menge von 217 Millionen Tonnen Kohlendioxid entsprechen. In Deutschland
gab es laut Bundesnetzagentur Ende 2022 mehr als 1100 Gaslieferanten.

Mit welchen Projekten werden CO2-Emissionen kompensiert?

Neben Waldschutzprojekten werden unter anderem auch Gaskraftwerke
herangezogen. Mehrere Kraftwerke aus Indien, China und Singapur seien von der
Nichtregierungsorganisation Verra offiziell als Klimaschutzprojekte gelistet
werden, so Correctiv. Deren CO2-Gutschriften tauchten in den Portfolios von acht
Gasversorgern auf. Verra betreibt laut Correctiv ein großes Register für
Kompensationsmaßnahmen. In einem Fall in Indien wird die Anrechnung laut
Correctiv beispielsweise damit begründet, dass ohne den Bau dieses Gaskraftwerks
ein emissionsintensiveres Kraftwerk gebaut worden wäre. "Den Einsatz von
fossilem Gas kann man nicht durch den Einsatz von fossilem Gas an anderer Stelle
rechtfertigen", erklärte dazu Carsten Warnecke von New Climate Institute in
Köln.

Was sagen die Unternehmen dazu?

Correctiv hat auch bei den Unternehmen nachgefragt. Als Reaktion auf die
Recherche kündigte etwa der Kölner Versorger Rheinenergie an, von den
Zertifizierern konkrete Projektüberprüfungsverfahren zu verlangen. "Bis zum
Vorliegen von Ergebnissen werden wir unser Angebot für Geschäftskunden pausieren
und keine neuen Kompensationsvereinbarungen mehr treffen", sagte ein
Unternehmenssprecher dem "Kölner Stadt-Anzeiger". Das Ökogas-Angebot der
Rheinenergie würden derzeit lediglich zwei Prozent der Geschäftskunden nutzen.
Derartige Angebote für Privatkunden gebe es seit drei Jahren nicht mehr, sagte
der Sprecher der Zeitung.

Auch Logoenergie in Euskirchen (Nordrhein-Westfalen) will reagieren. "Die
Recherchen nehmen wir zum Anlass, unsere Kompensationspraxis auf den Prüfstand
zu stellen und Anbieter, Standards und Zertifikate noch genauer zu
hinterfragen", teilte das Unternehmen auf dpa-Anfrage mit. "Natürlich möchten
wir nur Projekte fördern, die unseren Standards und Anforderungen vollständig
entsprechen."

Welche Rolle spielt Klimagas für Verbraucherinnen und Verbraucher?

Nach Angaben des Vergleichs- und Vermittlungsportals Verivox gibt es
zahlreiche Anbieter, die Klimagas anbieten. "In 2023 haben knapp 40 Prozent
unserer Kundinnen und Kunden einen Klimagas-Tarif abgeschlossen", sagte ein
Verivox-Sprecher. Allerdings seien diese Tarife häufig unter den günstigsten
Angeboten, sodass weniger die Klimakennzeichnung, sondern vielmehr der Preis ein
entscheidendes Kriterium bei der Tarifwahl sein dürfte. Der Verivox-Sprecher
betonte, als Vergleichsportal nicht für die Zertifizierung von Klimagas
zuständig zu sein. Auch das Portal Check24 betonte, dass in den Vergleichen nur
die Angaben der Unternehmen zu ihren Tarifen abgebildet würden. Das Portal will
die Recherchen von Correctiv zum Anlass nehmen, sämtliche eigenen Formulierungen
zum Thema Klimagas auf seinen Seiten zu überprüfen.

An dem Rechercheprojekt war auch die Deutsche Umwelthilfe (DUH) beteiligt.
Was hat der Verband jetzt vor?

Die DUH hat nach eigenen Angaben am Dienstag deutschlandweit 15 Gasversorger aufgefordert, ihre Werbung für klimaneutrales Erdgas zu beenden. Die Firmen
sollen Unterlassungserklärungen unterzeichnen. Der Verband wirft den Unternehmen
Verbrauchertäuschung vor. Die zur Kompensation herangezogenen Projekte seien in
allen Fällen untauglich, um die versprochene Klimaneutralität herzustellen. "Die
Projekte laufen, sofern zur Kompensation Waldprojekte verwendet werden, nicht
ansatzweise so lange, wie für die Gewährleistung einer Klimaneutralität
erforderlich", teilte die DUH mit.

Wie reagieren die Unternehmen darauf?

Unter den 15 Unternehmen ist auch Deutschlands größter Energieversorger Eon
. Ein Sprecher sagte, dass bei Eon bislang keine
Unterlassungserklärung der Deutschen Umwelthilfe eingegangen sei. Zum Thema
Zertifikate sagte er, dass Eon für die Nutzung von Kompensationszertifikaten
2022 einen internen und konzernweiten Mindestqualitätsstandard definiert habe.
"Die Qualitätsrichtlinie stellt sicher, dass die genutzten Zertifikate von hoher
Integrität sind." Nach einer Übergangsphase dürften Eon-Einheiten nur noch
Zertifikate erwerben, die den Qualitätsstandards dieser Leitlinie entsprächen.

Was sagen Verbraucherschützer?

Beim Verbraucherzentrale Bundesverband hieß es, dass man bereits seit
einiger Zeit mit Unterlassungsverfahren gegen wettbewerbswidrige sogenannte
Green Claims vorgehe. In diesem Zusammenhang gebe es auch mehrere Verfahren
gegen Energieversorger wegen Werbung mit dem Begriff "klimaneutral". "Im
Wesentlichen geht es dabei um die unserer Meinung nach irreführend geringe
Informationsdichte, die sich auf die geschäftliche Entscheidung auswirkt", hieß
es.

Ist auch Biogas von der Kritik betroffen?

Nein. Es geht ausschließlich um Ausgleichsmaßnahmen für die Verbrennung von
fossilem Erdgas. Biogas wird bei der Vergärung von Bio­mas­se gewonnen. Aus
Biogas kann reines Biomethan gewonnen werden, das in das Erdgasnetz eingespeist
werden kann. Biogas gilt als klimaneutral: Die CO2-Mengen, die bei der
Verbrennung freigesetzt werden, wurden zuvor von den Pflanzen aus der Atmosphäre
aufgenommen.

Was sagt die Gaswirtschaft zu der Recherche?

CO2-Kompensationsprojekte können helfen, die globalen Klimaschutzziele zu
erreichen, hieß es aus der Gaswirtschaft. "Wesentlich ist, dass die
Emissionsminderungen aus den Kompensationsprojekten zusätzlich zu den sonstigen
Klimaschutzbestrebungen erfolgen, sodass sich insgesamt die Emissionen
verringern." Die Kompensation von Treibhausgas-Emissionen sei nicht
gleichbedeutend mit Klimaneutralität, hieß es weiter. Akteure müssten in der
Kommunikation klar zwischen diesen Begriffen unterscheiden. Für die Branche
stehe CO2-Vermeidung stets im Vordergrund vor der Kompensation von
Treibhausgasemissionen.

Ist der CO2-Ausgleich auch ein Thema für die Bundesregierung?

Ja. Das Bundesministerium für Verbraucherschutz wies am Dienstag auf
dpa-Anfrage darauf hin, dass eine jüngst in Kraft getretene EU-Richtlinie
irreführende Werbeaussagen klar untersage. "Wenn Aussagen zur
Treibhausgasneutralität auf Kompensationen außerhalb der Wertschöpfungskette des
Unternehmens beruhen, dann darf nicht mehr suggeriert werden, dass das Produkt
neutrale, positive oder verringerte Auswirkungen auf die Treibhausgasbilanz
hat", erklärte eine Sprecherin. Die Richtlinie müsse innerhalb der nächsten zwei
Jahre in deutsches Recht umgesetzt werden. "Viele Unternehmen stellen sich schon
jetzt auf diese neuen Regelungen ein."/swe/DP/he
Name WKN Börse Kurs Datum/Zeit Diff. Diff. % Geld Brief Erster Schluss
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