29.03.2024 15:31:06 - dpa-AFX: Historiker-Brandbrief zum Ukraine-Kurs rüttelt SPD auf

BERLIN (dpa-AFX) - Ein Brandbrief von fünf sozialdemokratischen Historikern
zum Regierungskurs in der Ukraine-Politik rüttelt die SPD auf. Die Gruppe um den
Berliner Professor Heinrich August Winkler hatte Kanzler Olaf Scholz in dem
Schreiben an den Parteivorstand vorgeworfen, die "unzweideutige Solidarität" mit
der Ukraine vermissen zu lassen. Die Äußerung des Fraktionschefs Rolf Mützenich
zum "Einfrieren" des Kriegs kritisierten die Historiker sogar als "fatal".

Der SPD-Außenpolitiker Andreas Schwarz trat am Donnerstag zwar dem Eindruck
entgegen, dass ein Riss durch seine Partei geht. Er räumte im Deutschlandfunk
allerdings ein, dass der Ukraine-Kurs in der Bundestagsfraktion "leicht konträr"
diskutiert werde. "Das muss auch eine Demokratie, das muss auch eine Partei
aushalten, dass es unterschiedliche Meinungen zu einer wirklich sehr komplexen
Frage gibt."

Schlaglicht auf Differenzen in der SPD

Der Brief wirft ein Schlaglicht darauf, dass die Auseinandersetzung in der
Ampel-Koalition über den Ukraine-Kurs nicht nur zwischen der SPD auf der einen
und Grünen und FDP auf der anderen Seite geführt wird, sondern auch innerhalb
der SPD. Bisher hatte es gegen die roten Linien des Kanzlers bei der Lieferung
der Marschflugkörper Taurus in die Ukraine und der Entsendung von Bodentruppen
kaum öffentlichen Widerspruch von prominenten Sozialdemokraten gegeben. Der
linke Parteiflügel, der sich seit Langem neben den Waffenlieferungen mehr
diplomatische Initiative wünscht, fühlte sich bestärkt. Fraktionschef Rolf
Mützenich (SPD) schien dadurch geradezu euphorisiert zu sein und brachte sogar
ein "Einfrieren" des Konflikts ins Gespräch - also eine Waffenruhe, um eine
Verhandlungslösung zu ermöglichen.

Das ging einigen dann doch deutlich zu weit. Aber nur wenige sagten es so
klar und deutlich wie Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD), der sich von
Mützenich mit den Worten distanzierte: "Es würde am Ende nur Putin helfen."

Harte Historiker-Kritik: "Nicht selten faktisch falsch"

Die Historiker nahmen diesen Gedanken in ihrem Brief auf und wendeten ihn
auch auf die roten Linien des Kanzlers an: "Wenn Kanzler und Parteispitze rote
Linien nicht etwa für Russland, sondern ausschließlich für die deutsche Politik
ziehen, schwächen sie die deutsche Sicherheitspolitik nachhaltig und spielen
Russland in die Hände", schrieben sie. Sie werfen Kanzler, Partei- und
Fraktionsspitze zudem vor, in der Debatte über Waffenlieferungen "immer wieder
willkürlich, erratisch und nicht selten faktisch falsch" zu argumentieren.

Außerdem kritisieren sie, dass innerhalb der SPD eine "ehrliche Aufarbeitung der Fehler in der Russlandpolitik der letzten Jahrzehnte" fehle. Weder die
Verstrickungen eigener Mitglieder mit Interessenvertretern Russlands noch "die
fehlgeleitete Energiepolitik, die Deutschland in eine fatale Abhängigkeit von
Moskau geführt" habe, seien bisher ernsthaft problematisiert worden.

Noch keine Reaktion von Kanzler oder Parteiführung

Eine Reaktion von Kanzler, Partei- oder Fraktionsspitze gibt es bisher
nicht. SPD-Chef Lars Klingbeil veröffentlichte vor einigen Tagen auf Instagram
ein Video, in dem er aber lediglich die Linie der politischen, finanziellen und
militärischen Unterstützung der Ukraine bekräftigte. "Die wird so lange
weitergehen, wie die Ukraine unsere Unterstützung braucht." Die Debatte über
rote Linien in der Ukraine-Politik sprach er darin nicht direkt an.

Der Kanzler würde die Taurus-Debatte am liebsten ganz abbinden. Sie sei "an
Lächerlichkeit nicht zu überbieten", hatte er zuletzt kritisiert. Scholz fühlt
sich in seinem Kurs bestärkt, weil seit seinem Nein zu Taurus die Umfragewerte
für ihn und seine SPD steigen
- rechtzeitig zum bevorstehenden Beginn des Europawahlkampfs. Auf die
Frage, ob er die Ukraine-Politik aktiv zum Wahlkampfthema machen werde,
antwortete er am Mittwoch: "Ich bin davon überzeugt, dass viele Bürgerinnen und
Bürger es so sehen, dass genau diese Frage der Sicherheit in Europa bei der von
mir geführten Regierung und bei mir gut aufgehoben ist."

Zweites Warnsignal an Kanzler und Parteiführung innerhalb kurzer Zeit

In der SPD weiß man aus schmerzlichen Erfahrungen, dass ihr
innerparteilicher Streit eher schadet. Deswegen sind die wenigen Reaktionen auf
den Brief, die es bisher gibt, auch eher beschwichtigend. Die Aufregung in der
SPD über den Brief halte sich "in Grenzen", sagte der Außenpolitiker Nils Schmid
dem "Spiegel". "Bei Taurus aber respektiert die SPD die Abwägung des Kanzlers."

Der Brief ist nun aber schon das zweite Warnsignal an Kanzler und
Parteiführung, dass es Unmut in den eigenen Reihen gibt. Das erste Zeichen war
Anfang der Woche die Ankündigung des Vorsitzenden des Auswärtigen Ausschusses,
Michael Roth, sich aus dem politischen Betrieb zurückzuziehen. Roth war einer
der ganz wenigen aus der SPD, die sich überhaupt mal gegen den Kurs des Kanzlers
in der Ukraine-Politik gestellt haben. In einem "Stern"-Interview begründete er
seinen Rückzug mit einer Entfremdung vom Politikbetrieb insgesamt, aber auch von
seiner eignen Fraktion: "Wenn die Tür zum Fraktionssaal aufging, hatte ich
zuletzt den Eindruck, ich steige in einen Kühlschrank."/mfi/DP/he

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