28.06.2024 12:13:15 - dpa-AFX: EM 2024/England und die Elfmeter: Üben und nicht darüber reden
BLANKENHAIN/GELSENKIRCHEN (dpa-AFX) - Alle Jahre wieder - das ist für
Englands Fußballer nicht gerade eine frohlockende Botschaft. Nach dem gelösten
Ticket für die K.o.-Runde der EM droht dem Fußball-Mutterland mal wieder die so
gehasste Disziplin, die sie in den vergangenen Jahren so oft vorzeitig aus
wichtigen Turnieren warf: das Elfmeterschießen. In Zusatzschichten - häufig nach
den eigentlichen Einheiten - üben und simulieren Harry Kane und Co. im sonnigen
Blankenhain vor dem Achtelfinale am Sonntag gegen die Slowakei (18.00 Uhr/ZDF
und MagentaTV) den Ernstfall vom Punkt.
"Wir investieren sehr viel Arbeit dafür. Es lief richtig gut bei den
Elfmetern im Training. Und es ist wichtig, dass wir sicherstellen, dass wir für
den Fall der Fälle bereit sind", sagte Abwehrspieler Marc Guehi. Als ein
weiterer Journalist zu den Details und der Häufigkeit der Übungen nachhakte,
zeigte sich aber die ganze Nervosität im englischen Lager.
Profi soll keine weiteren Fragen dazu beantworten
"Tut mir leid, ich werde mich da einmischen. Ich möchte keinen
Wettbewerbsvorteil verschenken", sagte Kommunikationschef Andy Walker und
unterband eine Antwort des Profis von Crystal Palace. Walker rief unmittelbar
den nächsten Reporter auf. Der ausgebremste Guehi grinste einigermaßen verlegen.
Abwehrkollege Kieran Trippier hatte zuletzt bereits das Prozedere unter
Cheftrainer Gareth Southgate beschrieben. Dabei werden Spieler ausgewählt, die
jeweils drei Strafstöße schießen - diese wiederum werden analysiert. Dabei
hätten die Three Lions und der viel kritisierte Southgate vor der Rückkehr nach
Gelsenkirchen, wo tausende Fans nach dem 1:0 gegen Serbien zum EM-Auftakt ein
Transportchaos erlebten, genug zu tun.
Witze über die furchtbare Bilanz
In der rumpeligen EM-Vorrunde mit gerade einmal zwei Toren haperte es an
Esprit, Ideen und Tempo. Doch die Extra-Arbeit für die Elfmeter ist Pflicht. Zu
sehr drückt die Geschichte, in der England bei den wichtigen Turnieren seit der
WM 1998 nur einmal als Sieger aus dem Nervenspiel hervorging.
Southgate hat in seinen knapp acht Jahren als Chefcoach schon einiges
probiert: Vor der WM 2018 erzählten sich Trainer und Profis Witze über die
ganzen Niederlagen vom Punkt, bei denen Southgate bereits als Spieler maßgeblich
beteiligt war: Im Halbfinale der EM 1996 gegen Deutschland verschoss der heutige
Nationalcoach selbst den entscheidenden Elfmeter. Seine Maßnahmen schienen
jedoch zunächst etwas zu bringen: Gegen Kolumbien gelang bei der WM 2018
tatsächlich mal ein Erfolg im Elfmeterschießen.
Nun wartet wieder Gelsenkirchen. Vor zwei Wochen haben weder die Fans noch
die Journalisten besonders positive Erfahrungen mit der Heimat des FC Schalke 04
gemacht. Die Anhänger warteten mitten in der Nacht stundenlang auf überfüllten
Bahnsteigen. Die Vor-Ort-Reporter echauffierten sich über den tristen Ort, den
ein Blogger als "absolutes Drecksloch" bezeichnete. Und auch für die Three Lions
ist Gelsenkirchen berüchtigt. Schließlich verlor man dort 2006 das
WM-Viertelfinale gegen Portugal - selbstredend im Elfmeterschießen.
Elfmeter-Thematik füllt ganze Bücher
Das bei Fans beliebte Nervenspiel nach 120 Minuten ist ein riesiges Thema in
England. Der "Telegraph" analysierte vor dem Wochenende die englischen Schützen
und teilte diese je nach Häufigkeit und Trefferquote in Gruppen ein. Kapitän
Kane, Flügelspieler Bukayo Saka und Reservist Ivan Toney gelten als besonders
sichere Anwärter. Doch angesichts von fünf Wechselmöglichkeiten ist fraglich,
wer dann von der Startelf, zu der Kane und Saka zählen dürften, überhaupt noch
auf dem Rasen steht.
Das Elfmeterschießen samt seinen Geschichten, Lehren und Tücken füllt
inzwischen ganze Bücher. Im September dieses Jahres erscheint ein Werk mit dem
Titel "Unter Druck - Was wir aus der Psychologie des Elfmeterschießens fürs
Leben lernen können" - das Buch hat 290 Seiten.
England befindet sich als Elfmeter-Wackelkandidat aber inzwischen in guter
Gesellschaft. Auch die Franzosen verloren die vergangenen drei Duelle vom Punkt:
die beiden WM-Finals 2006 gegen Italien und 2022 gegen Argentinien sowie das
EM-Achtelfinale 2021 gegen die Schweiz.
Trainer Didier Deschamps allerdings sagte: "Es ist unmöglich, die
Elfmetersituation im Training zu simulieren." Psychologisch sei es ein "riesiger
Unterschied", ob man im Training, während des Spiels oder nach einer
Verlängerung antrete. Wer könnte das besser bezeugen als die leidgeplagten
Fußballer aus England./pre/DP/jha