01.07.2024 05:55:04 - dpa-AFX: ROUNDUP: Union kritisiert den Zustand der Bundeswehr - 'Tiefe Frustration'

BERLIN (dpa-AFX) - Mangel an Waffen, Mangel an Munition, weniger Soldaten
- und das im dritten Jahr der militärischen Zeitenwende: Die Union
kritisiert den Zustand der Bundeswehr deswegen scharf. "Die Ampel wird die
Bundeswehr in einem schlechteren Zustand übergeben, als sie sie übernommen hat",
sagt Unionsfraktionsvize Johann Wadephul (CDU) der Deutschen Presse-Agentur in
Berlin. Das gelte für die materielle und auch die personelle Ausstattung, "also
kurz gefasst die Einsatzbereitschaft". Der Außen- und Verteidigungspolitiker
warnt: "Das ganz alte Schlagwort "Bedingt abwehrbereit" bekommt eine neue
Aktualität."

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hatte im Februar 2022 nach dem Beginn des
russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine in einer Regierungserklärung, die
auch als Zeitenwende-Rede bezeichnet wird, einen sicherheitspolitischen
Kurswechsel angekündigt, zu dem auch der mit 100 Milliarden Euro ausgestattete
Sondertopf für die Bundeswehr gehört. Verteidigungsminister Boris Pistorius
(SPD) sprach später davon, die Streitkräfte müssten möglichst schnell
kriegstüchtig sein. Dass dabei Material aus den knappen Beständen der Bundeswehr
an die Ukraine abgegeben wird, ist dabei ein Zielkonflikt, der schwer aufzulösen
ist.

Nicht alles sei von der Regierung selbst verschuldet, sagt Wadephul dazu.
"Ich kritisiere keine Einzige der Abgaben. Das hat naturgemäß zu einer
schlechteren Ausstattung beigetragen. Man muss allerdings sagen, sowohl was die
materielle Ausstattung angeht, als auch was die personelle Ausstattung angeht,
fehlt es schlicht und ergreifend an effektiven und durchgreifenden Maßnahmen,
die zu einer Verbesserung geführt hätten."

Genaue Informationen zum Bundeswehr-Zustand sind geheim

Nach Informationen der Deutschen Presse-Agentur informierte die
Bundesregierung den Verteidigungsausschuss des Bundestags jüngst über die
materielle Einsatzbereitschaft mit Details, die Sorge auslösten. Wegen einer
grundsätzlich geänderten Bedrohungslage sind solche Daten
- anders als in früheren Jahren - nicht mehr öffentlich. Die genauen
Angaben sind nur einem engeren Personenkreis zugänglich und liegen in der
Geheimschutzstelle des Bundestags.

Einige Nöte sind aber bekannt: So hat die Luftwaffe drei von zwölf
Patriot-Luftabwehrsystemen an die Ukraine übergeben, weitere sind in der
Industrie zur Modernisierung. Der Bestand ist nun so, dass gerade noch selbst
ausgebildet werden kann. Das Panzerbataillon 203 aus dem nordrhein-westfälischen
Augustdorf hat seine Leopard-2-Kampfpanzer an die Ukraine abgegeben und ist also
blank. Die Artillerieschule im rheinland-pfälzischen Idar-Oberstein - laut
Bundeswehr "zentrale Ausbildungsstätte für indirektes Feuer" - müsste sieben
Panzerhaubitzen haben, hatte zuletzt aber noch drei - und nur eine
funktionierte, wie es aus dem Militär hieß. Großes Sorgenkind ist die Munition,
zu der auch hochmoderne Lenkflugkörper gehören und für die es Mengenvorgaben der
Nato gibt.

Union sieht große Probleme bei Landstreitkräften

"Nach allem, was man hört und liest, erfüllt Deutschland
Mindestanforderungen an Beständen im Bereich Munition nicht. Wir müssen dabei
immer berücksichtigen, dass Munition für Übungen verbraucht wird und sie eben
auch Haltbarkeitsdaten überschreitet. Die Nachbeschaffung krankt. Wir laufen
wirklich Gefahr, an der Stelle zu einem Problem auch innerhalb der Nato zu
werden", warnt Wadephul.

Er macht die Hauptproblemfelder vor allem bei den deutschen
Landstreitkräften aus, die "komplett vernachlässigt" worden seien. "Der
Ukraine-Krieg zeigt aber: Wir müssen uns insbesondere auf eine bodengebundene
Auseinandersetzung einstellen. Aus meiner Sicht wird in dem Bereich zu wenig
investiert", sagt der Unionsmann.

"Ich kenne einen Kommandeur, der mir sagt: Ich habe zwar immer noch 100
Prozent des Personals, aber ich habe 20 Prozent der materiellen Ausstattung. Und
deswegen gibt es in großen Teilen auch der aktiven Truppe eine tiefe
Frustration. Leute, die gut und die sehr gut sind, verlängern nicht, bleiben
nicht in der Bundeswehr, ziehen auch den Antrag auf Berufssoldat zurück. Und das
spricht sich herum." Trotz einer Personaloffensive war die Bundeswehr im
vergangenen Jahr auf 181 500 Soldaten geschrumpft - und die Zahl der Männer und
Frauen ist weiter gesunken.

Beim Kampf gegen Drohnen ist Bundeswehr "faktisch schutzlos"

Bei den Fähigkeiten geht es auch um die Flugabwehr. "Wir wissen spätestens
seit dem Berg-Karabach-Konflikt, dass Drohnen auf dem Gefechtsfeld eine ganz
neue Bedrohung sind, gegen die die Bundeswehr faktisch schutzlos ist", sagt er.
Dass es nun erst eine sogenannte Task Force Drohnen gibt, sei "schon fast eine
Karikatur". Deutschland müsse Drohnen effektiver beschaffen und die Fähigkeit zu
ihrer Bekämpfung haben. "Über dem Gefechtsfeld der Ukraine ist der Himmel
schwarz mit Kleinst-, Mini- bis Großdrohnen. Und die Bundeswehr sieht von
alledem gar nichts. Wer, wie der Verteidigungsminister, von Kriegstüchtigkeit
spricht, der muss in allen Dimensionen auch adäquate Antworten geben."

Ungeachtet der Probleme gebe es aber "noch nicht mal ein Reförmchen im
Bereich des Beschaffungswesens". Nötig seien neue Strukturen für die Aufgaben
des Beschaffungsamts (BAAINBw). "Das Stichwort dafür ist eine
Beschaffungsagentur. Insbesondere die SPD klebt aber an einer
öffentlich-rechtlichen Struktur, die aber nicht mehr zukunftsfähig ist", erklärt
Wadephul. "Diese große überladene Beschaffungsbehörde kann strukturell nicht in
der Lage sein, schnell und effektiv zu beschaffen."

Ungelöste Aufgabe: Wie geht es weiter im Verteidigungshaushalt

Er sehe keine Planungen, den Verteidigungsetat deutlich steigen zu lassen.
Pistorius habe schon für dieses Jahr zehn Milliarden Euro mehr gefordert und
nicht bekommen, sondern nur die höheren Personalkosten. "Wir haben faktisch eine
Nulllinie, die unter Berücksichtigung der Inflation eine Minuslinie ist",
erläutert Wadephul. Gerade die Munitionsbeschaffungen müssten aber über mehrere
Jahre erfolgen und im normalen Haushalt abgebildet sein.

"Ich rate davon ab, dass wir auf das Prinzip Hoffnung setzen", sagt er.
Russland bereite sich militärisch auf mehr vor und regeneriere Fähigkeiten und
Kapazitäten. "Und wenn sich Russland auf mehr vorbereitet, sollten wir uns auch
auf mehr vorbereiten." Das gelte auch, falls es zu
Waffenstillstandsverhandlungen zwischen der Ukraine und Russland kommen sollte.
"Das haben wir jetzt gelernt: Wir werden Sicherheit nicht mit, sondern nur noch
gegen Russland in Europa haben", sagt Wadephul./cn/DP/zb

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