17.06.2024 18:51:45 - dpa-AFX: ROUNDUP 3: EU-Staaten beschließen umstrittenes Naturschutzgesetz

(neu: Österreichs Kanzler führt Koalition mit Grünen fort)

LUXEMBURG (dpa-AFX) - Die EU-Staaten haben den Weg für ein lange
umstrittenes Naturschutzgesetz freigemacht. Demnach sollen in der Europäischen
Union unter anderem Wälder aufgeforstet sowie Moore und Flüsse in ihren
natürlichen Zustand zurückversetzt werden. Eine ausreichende Mehrheit von
EU-Staaten stimmte dem vor allem von Landwirten und Konservativen kritisierten
Vorhaben am Montag in Luxemburg zu, wie die derzeitige belgische
EU-Ratspräsidentschaft mitteilte.

Über das Vorhaben wurde lange und intensiv gestritten. Die EU-Kommission
hatte das sogenannte Renaturierungsgesetz vor fast genau zwei Jahren
vorgeschlagen. Nach offiziellen Angaben sind rund 80 Prozent der Lebensräume in
der Europäischen Union in einem schlechten Zustand. Zudem sind demnach 10
Prozent der Bienen- und Schmetterlingsarten vom Aussterben bedroht und 70
Prozent der Böden in schlechter Verfassung.

Das Gesetz ist Teil des sogenannten Green Deals, mit dem sich die EU das
Ziel gesetzt hat, bis 2050 klimaneutral zu werden. "Die Verordnung zielt darauf
ab, den Klimawandel und die Auswirkungen von Naturkatastrophen einzudämmen"
teilten die EU-Staaten mit. Nach Angaben des Umweltbundesamts können durch
Renaturierung etwa Überschwemmungsflächen zurückgewonnen und Hochwasserrisiken
verringert werden.

Bundesumweltministerin Steffi Lemke sprach von einem entscheidenden Schritt
für eine intakte Natur in Europa. "Ich begrüße sehr, dass die EU-Mitgliedstaaten
heute die Verordnung zur Wiederherstellung der Natur beschlossen haben", so die
Grünen-Politikerin. 20 der 27 EU-Staaten - darunter Schwergewichte wie
Deutschland und Frankreich - stimmten für die neuen Vorgaben, 6 sprachen sich
dagegen aus, und Belgien enthielt sich.

Deutschland muss nun innerhalb von zwei Jahren einen Plan bei der
EU-Kommission einreichen, welche Maßnahmen durchgeführt werden. Denkbar sind
etwa Blühstreifen anzulegen, Bäume in Innenstädten zu pflanzen oder Stauwerke
aus Flüssen zu entfernen.

Gesetz in Verhandlungen wegen Kritik abgeschwächt

Während Umweltschützer, zahlreiche Wissenschaftler und Unternehmen wie Ikea, H&M und Nestlé das Gesetz befürworteten, gab es großen Widerstand vor allem von
Christdemokraten und Bauernverbänden. Die Kritiker befürchten zu große
Einschnitte für Landwirte und damit Auswirkungen auf die Lebensmittelproduktion
in der EU.

"Man kann uns Bauern nicht par ordre du mufti vorschreiben, wie wir zu
wirtschaften haben. Das löst Widerstände aus", sagte der Präsident des Deutschen
Bauernverbands Joachim Rukwied. Auch aus der FDP gibt es Kritik. Jan-Christoph
Oetjen, Vizepräsident des Europäischen Parlaments, sprach nach der Abstimmung
von einem Schritt rückwärts. Forst- und Landwirtschaft würden neue Restriktionen
auferlegt.

Um auf Bedenken einzugehen, war das Gesetz im Verhandlungsprozess deutlich
abgeschwächt worden. So ist beispielsweise nicht mehr vorgesehen, dass Landwirte
verpflichtet werden, einen bestimmten Prozentsatz ihrer Agrarflächen für
Renaturierungen zur Verfügung zu stellen.

Alleingang einer grünen Ministerin

Eigentlich hatten sich die EU-Länder und das EU-Parlament schon im November
auf einen Kompromiss verständigt. Auch das EU-Parlament hatte bereits
zugestimmt. Weil eine Reihe von Ländern trotzdem weiter dagegen war, stand die
notwendige Mehrheit unter den ebenfalls an der Gesetzgebung beteiligten
EU-Staaten lange auf der Kippe.

Diese kam nun durch einen Kurswechsel Österreichs zustande. Die Wiener
Klimaschutz- und Umweltministerin Leonore Gewessler (Grüne) stimmte dem Gesetz
zu - stellte sich damit aber gegen ihren konservativen Koalitionspartner, die
Kanzlerpartei ÖVP und löste so eine Regierungskrise aus. Österreichs Kanzler
Karl Nehammer ist der Meinung, dass Gewesslers Vorgehen rechtswidrig ist. Das
Bundeskanzleramt in Wien kündigte nach Gewesslers unabgestimmtem Ja umgehend
eine Nichtigkeitsklage beim Europäischen Gerichtshof an. Gewessler hatte
hingegen vor ihrem Votum betont, ihr Schritt sei juristisch abgesichert.

Ob das Gesetz angesichts der unterschiedlichen Rechtsauffassungen doch noch
aufgehalten wird, müssen am Ende Gerichte entscheiden. Der derzeitige belgische
EU-Ratsvorsitzende Alain Maron sprach mit Blick auf Österreich von einer
innenpolitischen Kontroverse, "die mich nichts angeht".

Belgien hat derzeit den regelmäßig wechselnden Vorsitz unter den EU-Staaten
inne. Nach Angaben eines EU-Diplomaten vertritt die Ratspräsidentschaft die
Auffassung, dass die Abstimmung rechtlich bindend ist. Diese Ansicht sei auch
vom juristischen Dienst des Rats bestätigt worden.

Mit der Zustimmung der EU-Staaten ist das Gesetz eigentlich beschlossen.
Sollten sich keine juristischen Fallstricke mehr entwickeln, müsste der
Rechtstext nur noch in die EU-Amtssprachen übersetzt und im Amtsblatt
veröffentlicht werden, damit die Vorgaben in Kraft treten können. 2033 soll die
EU-Kommission die Auswirkungen der Verordnung auf die Landwirtschaft, Fischerei
und Forstwirtschaft überprüfen.

Schwere Regierungskrise in Österreich

Die konservative Kanzlerpartei ÖVP kündigte in Wien eine Anzeige wegen
Amtsmissbrauchs gegen Gewessler an. Leonore Gewessler habe sich über die
Verfassung gestellt, sagte ÖVP-Generalsekretär Christian Stocker. Seine Partei
argumentiert, dass Gewessler an einen Einspruch der österreichischen
Bundesländer gegen das EU-Gesetz gebunden sei. Gewessler ist überzeugt, dass
dieses Veto nicht mehr gilt, seitdem Wien zuletzt den Länder-Konsens verlassen
hat und das Gesetz unterstützt.

Dies sei "ein mehr als schwerer Vertrauensbruch", sagte Kanzler Karl
Nehammer. Um Österreich ein Chaos zu ersparen, werde er jedoch die Koalition
nicht platzen lassen, auch wenn die Zusammenarbeit mit den Grünen "keinen Sinn
mehr" habe. Nehammers Konservative stehen stark unter Druck, nachdem sie in der
EU-Wahl von der rechten, EU-kritischen FPÖ auf den zweiten Platz verwiesen
wurden.

Umweltverbände sprechen von historischem Tag

Der Deutsche Naturschutzring als Dachverband von knapp 100 Organisationen
sprach von einem historischen Tag und einem wichtigen Signal an die Welt. Die
Sicherung der Lebensgrundlagen und die Einhaltung von Verpflichtungen aus dem
Biodiversitätsabkommen der Vereinten Nationen seien trotz einer starken
rechtspopulistischen Kampagne nicht verhandelbar. Brennende und absterbende
Wälder, Hochwasserereignisse, Wassernotstände und die Klimakrise zeigten, dass
jetzt gehandelt werden müsse. Die Organisation Greenpeace forderte die
Bundesregierung auf, den Beschluss schnell in der deutschen Gesetzgebung
umzusetzen./mjm/DP/ngu

© 2000-2024 DZ BANK AG. Bitte beachten Sie die Nutzungsbedingungen | Impressum
2024 Infront Financial Technology GmbH