11.07.2024 18:58:06 - dpa-AFX: WDH/HINTERGRUND 2/US-Raketen für Deutschland: Der Kalte Krieg ist zurück

(Wiederholung: Im 4. und 11. Absatz je ein überflüssiges Wort gestrichen.)

WASHINGTON (dpa-AFX) - Der entschlossenste Schritt des Nato-Gipfels von
Washington ist nahezu geräuschlos - und doch sicherheitspolitisch ein Knall:
Wegen der Bedrohung durch Russland werden die USA in Deutschland von 2026 an
wieder Waffensysteme stationieren, die weit bis nach Russland reichen. Darunter
sollen Marschflugkörper vom Typ Tomahawk sein, die technisch gesehen auch
nuklear bestückt sein können, Luftabwehrraketen vom Typ SM-6 und neu entwickelte
Hyperschallwaffen, die insgesamt weiter reichen sollen als bislang stationierte
Landsysteme.

Diese "fortschrittlichen Fähigkeiten" würden das Engagement der USA für die
Nato und ihren Beitrag zur gemeinsamen europäischen Abschreckung demonstrieren,
teilten die USA und Deutschland am Rande des Gipfels in nur drei Sätzen mit.

Die Entscheidung erfolgt rund fünf Jahre nach der Auflösung des INF-Vertrags über ein Verbot landgestützter atomaren Mittelstreckenwaffen. Er war von den USA
mit Rückendeckung der Nato-Partner gekündigt worden, weil Washington davon
ausgeht, dass Russland das Abkommen mit einem Mittelstreckensystem namens SSC-8
(Russisch: 9M729) verletzt.

Russland und China reagieren erbost

Russland warf der Nato eine Eskalation vor. "Wir werden, ohne Nerven oder
Emotionen zu zeigen, eine vor allem militärische Antwort darauf ausarbeiten",
sagte Vizeaußenminister Sergej Rjabkow der staatlichen Nachrichtenagentur Tass
zufolge. Nun soll die russische Atomdoktrin überarbeitet werden. Und China: Nach
Kritik der Nato an der Rolle der asiatischen Großmacht im Ukraine-Krieg kam aus
Peking die Antwort, die Nato-Äußerungen seien voll von Kriegsrhetorik,
Verleumdung und Provokationen.

Verstärkte Anzeichen der Blockbildung

Zum 75. Geburtstag der Nato ist der Kalte Krieg zurück: Das Bündnis
verstärkt die militärische Absicherung Europas, weil die russische Führung um
Präsident Wladimir Putin den Angriffskrieg gegen die Ukraine nicht beenden will
und Maßnahmen der gegenseitigen Rüstungskontrolle aufgekündigt worden sind. Mehr
noch: Die Anzeichen für eine neue Blockbildung verstärken sich, wobei die USA
und Europa auf der einen Seite und Länder wie China, Russland, Nordkorea und der
Iran auf der anderen Seite um Einfluss in der Welt ringen.

Bloß nicht schwächeln

Die Nato versucht dem Eindruck entgegenzuwirken, sie sei vom Ukraine-Krieg
ermüdet und durch Differenzen untereinander geschwächt. Beim Gipfel in
Washington wird hinter den Kulissen zwar großer Unmut darüber geäußert, dass der
ungarische Ministerpräsident Viktor Orban jüngst für eine unabgesprochene
"Friedensmission" nach Moskau und Peking reiste. Nach Außen hin wird die von der
russischen Propagandamaschine genüsslich ausgeschlachtete Aktion allerdings als
ungarische Privatsache und irrelevant abgetan.

Ähnlich läuft es mit den Diskussionen über die Amtstauglichkeit des um eine
zweite Amtszeit kämpfenden US-Präsidenten Joe Biden. Andere Staats- und
Regierungschefs wollen sich zu einem der weltweit am meisten diskutierten
Politik-Themen öffentlich nicht äußern - geschweige denn, ihre Meinung dazu
kundtun.

Scholz protestierte selbst mal gegen Mittelstrecken-Waffen

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) tritt in Washington betont selbstbewusst auf und macht klar, dass Deutschland auch in schwierigen Zeiten seiner Verantwortung
als größte Volkswirtschaft Europas nachkommen wolle. "Deutschland ist das größte
Land in Europa innerhalb des Nato-Bündnisses. Daraus erwächst uns eine ganz
besondere Verantwortung", sagt er. "Und das kann ich hier ganz klar und deutlich
sagen: Wir werden, ich werde dieser Verantwortung gerecht werden." Solche klare
Töne sind eher selten von jemandem zu hören, der Deutschland am liebsten
bescheiden als "Mittelmacht" verkauft.

Dass nun auf deutschem Boden wieder US-Waffen stationiert werden sollen, die Russland treffen können, ist für ihn aber nicht ohne Brisanz. Die Furcht, dass
man dadurch selbst zum Ziel russischer Waffen werden könnte, ist in Deutschland
einigermaßen weit verbreitet. Scholz hatte Anfang der 80er Jahre selbst als
junger Sozialdemokrat gegen den Nato-Doppelbeschluss protestiert, der unter
anderem die Stationierung von Mittelstrecken-Raketen vom Typ Pershing II vorsah,
die nach dem Ende des Kalten Krieges bis 1991 wieder abgezogen wurden.

Zur Frage, ob er nun wieder mit größerem Widerstand gegen die Rückkehr
solcher weitreichenden Waffen nach Deutschland rechne, sagt er nun: "Diese
Entscheidung ist lange vorbereitet und für alle, die sich mit Sicherheits- und
Friedenspolitik beschäftigen keine wirkliche Überraschung." Und sie passe auch
genau in die Sicherheitsstrategie der Bundesregierung aus dem letzten Jahr, die
öffentlich diskutiert worden sei.

US-Wahl birgt Ungewissheit

Die deutsche Innenpolitik stellt im Vergleich zur amerikanischen allerdings
derzeit kein ernstzunehmendes Risiko für die Nato dar. In den Vereinigten
Staaten steht im November die Präsidentschaftswahl an und die Rückkehr von
Donald Trump ins Weiße Haus ist ein realistisches Szenario. Dass Trump das
Stationierungsvorhaben dann rückgängig macht, liegt zumindest im Bereich des
Möglichen. Der Republikaner hatte während seiner Amtszeit von 2017 bis 2021 eine
Reduzierung der US-Militärpräsenz in Deutschland eingeleitet, die später von
Biden gestoppt wurde. Seit dem russischen Angriff auf die Ukraine verstärkte der
amtierende Präsident die US-Truppenpräsenz in Deutschland und Europa sogar
wieder.

Biden versichert immer wieder, die Vereinigten Staaten stünden unumstößlich
zu ihren Bündnispflichten in der Militärallianz und würden jeden Zentimeter von
Nato-Territorium verteidigen. Trump hingegen wetterte in seiner ersten Amtszeit
immer wieder über die seiner Ansicht nach zu niedrigen Verteidigungsausgaben von
europäischen Alliierten und drohte zeitweise sogar mit einem Austritt der USA
aus dem Bündnis.

Im Wahlkampf sagte Trump, er wolle Nato-Ländern, die ihren finanziellen
Verpflichtungen nicht nachkämen, keinen amerikanischen Schutz mehr gewährleisten
- und ermutige Russland geradezu, mit ihnen "zu tun, was auch immer zur Hölle
sie wollen". Trumps Äußerungen lassen nicht darauf schließen, dass er ein
Interesse daran hat, sich stärker in der Nato und für die Abschreckung in Europa
zu engagieren.

Doch vielleicht kann Trump der Stationierung weitreichender Waffensysteme in Deutschland doch etwas abgewinnen. Denn schließlich ist der 78-Jährige auch
jemand, der gerne die Muskeln spielen lässt. Für die Nato kann die
Unberechenbarkeit Trumps sogar auch etwas Gutes haben - denn auch Putin weiß
letztendlich nicht, was ihn bei weiteren Provokationen erwarten würde.

"Laufen alle auf Autopilot?"

Ob mit Trump oder ohne ihn: Die Aussichten für eine friedlichere Welt sind
derzeit düster. Nach der Ankündigung der USA, in Deutschland weitreichende
Raketenwaffen zu stationieren, prognostizierte der Nuklearwaffenexperten Hans
Kristensen, dass Russland nun ebenfalls zusätzliche weitreichende Waffen
stationieren werde. "Hat hier jemand einen Plan? Oder laufen alle auf
Autopilot?", fragte er.

Scholz erklärte unterdessen, dass es aus seiner Sicht keine andere Wahl
gibt, als die jetzt getroffene. "Wir wissen, dass es eine unglaubliche
Aufrüstung in Russland gegeben hat, mit Waffen, die europäisches Territorium
bedrohen", sagte er./cn/mfi/trö/aha/DP/men

--- Von Carsten Hoffmann, Ansgar Haase, Michael Fischer, Kay Nietfeld und
Magdalena Tröndle, dpa ---

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