06.06.2024 06:30:03 - dpa-AFX: ROUNDUP/Experten: Hoher Alkoholkonsum gefährdet auch Partner, Kinder, Kollegen

HAMM (dpa-AFX) - Eine Tochter, die Angst hat, dass die angetrunkene Mutter
ausrastet oder ein Mitarbeiter, der wieder für den alkoholbedingt ausgefallenen
Kollegen einspringen soll: Die "Volksdroge Nummer eins" schädige nicht "nur" die
rund neun Millionen Menschen mit einem problematischen Alkoholkonsum, sondern
belaste und gefährde auch viele Dritte in praktisch allen Lebensbereichen,
betonte die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen (DHS) in Hamm am Donnerstag zum
anstehenden Start einer Kampagnenwoche. DHS, Bundesärztekammer (BÄK),
Bundespsychotherapeutenkammer, die Gesellschaft für Psychiatrie (DGPPN) und die
DG-Sucht forderten spürbare Preissteigerungen für alkoholische Getränke. Es
dürfe für sie keine Werbung mehr geben und sie sollten weniger verfügbar sein,
mahnten sie in einem gemeinsamen Positionspapier.

Alleine rund acht Millionen Angehörige seien von Alkoholkonsum und
Suchtverhalten eines Verwandten mitbetroffen - mehrheitlich gehe es dabei um
problematischen Alkoholkonsum, sagte DHS-Geschäftsführerin Christina Rummel der
Deutschen Presse-Agentur. Diese Angehörigen seien starken Stimmungsschwankungen
der nahestehenden Person ausgesetzt, fühlten sich hilflos und allein, zugleich
aber auch verantwortlich dafür, nach außen den Schein zu wahren und Versäumnisse
aufzufangen. Und: "In Familien mit Alkoholproblemen kommt es überproportional
häufig zu gewalttätigen Übergriffen", berichtete die DHS. Gravierend auch: Mehr
als 2,6 Millionen Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren haben Eltern, die
Alkohol missbrauchen oder von ihm abhängig sind.

Aktionen deutschlandweit an vielen Orten von Aachen bis Zwickau

Deutschland sei "Alkohol-Hochkonsumland", auch wenn über die vergangenen
Jahrzehnte hinweg der Konsum gesunken sei, hieß es bei der DHS. Es brauche viel
mehr Sensibilität im Umgang mit Alkohol - und Bewusstsein für die Gefahren.
Deutschland sei sehr alkoholaffin, so Rummel. Die DHS koordiniert die
Aktionswoche - diesmal unter dem Motto "Wem schadet dein Drink?". Ab Samstag
sollen mehr als 800 Veranstaltungen nahezu flächendeckend von Aachen bis Zwickau
an den Start gehen. Das Ganze steht unter Schirmherrschaft des
Bundesdrogenbeauftragten Burkhard Blienert. Viele Organisationen,
Landesgesundheitsministerien und Suchthilfe-Netzwerke kooperieren.

Konkretes Aktionsbeispiel: Im bevölkerungsreichsten Bundesland NRW bieten
Polizei und Caritas einen Verkehrsparcours unter simuliertem Alkoholeinfluss an.
In Essen finden Schulungen für Führungskräfte, in Düsseldorf Trainings für
Mitarbeiter statt, die Uni Bielefeld ist mit Infos und Selbsttests dabei, die
Stadtbibliothek Bottrop hat einen Büchertisch vorbereitet. Einige Hilfsangebote
bundesweit richten sich auch an Kinder und Jugendliche. Präventionstage in
Schulen und Betrieben soll es geben. Suchthilfe und Selbsthilfegruppen sind vor
Ort.

Wer wird durch den Alkoholkonsum anderer geschädigt?

Zum Thema Arbeitsplatz weist die DHS auch mit Plakaten darauf hin: "Alkohol
verlangsamt das Denken." Es komme zu Fehlern, Produktionsausfällen, hohen
Krankheitsständen, schilderte Rummel. Bei Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen
steige die Unzufriedenheit, wenn sie Fehlzeiten und Mängel auffangen müssten.
Die DHS hat Gesprächshilfen und Materialien einwickelt. "Bei Firmen und
Betrieben ist das Interesse riesengroß." Es gebe ein starkes Umdenken.

Im Verkehr werden bei jährlich mehreren Tausend Unfällen mit Personenschäden unter Alkoholeinfluss auch viele Unbeteiligte schwer getroffen, wie Experten
unterstreichen. Alkoholkonsum begünstige zudem Gewalt und Kriminalität. In ihrem
gemeinsamen Positionspapier stellen DHS, BÄK und die anderen Unterzeichner klar:
"Die Folgen von Alkoholkonsum sind eine enorme Belastung der
Bevölkerungsgesundheit, des sozialen Miteinanders und der Volkswirtschaft." In
Deutschland werde übermäßig viel Alkohol getrunken, die Rahmenbedingungen seien
"äußerst konsumfördernd".

Kinder sind schwer belastet - und das Ungeborene trinkt immer mit

Für die rund 2,65 Millionen Minderjährigen, deren Eltern Alkohol
missbrauchen oder alkoholsüchtig sind, sieht ihr Aufwachsen laut Christina
Rummel oft so aus: "Sie haben keinen Halt, es gibt für sie keine Kontinuität,
sie werden in einem Umfeld groß, das geprägt ist von Unsicherheit." Nicht selten
müssen sie demnach ihre Eltern versorgen, haben keine echte Kindheit - aber ein
erhöhtes Risiko, später selbst ein Alkoholproblem zu entwickeln.

Traurige Realität auch: Pro Jahr kommen in Deutschland nach DHS-Angaben etwa 10 000 Kinder schon alkoholgeschädigt zur Welt. Sie haben eine unheilbare Fetale
Alkohol-Spektrum-Störung (FASD), können auffällig schmächtig sein oder schwere
geistige Einschränkungen haben. Von FASD seien insgesamt rund 1,5 Millionen
Menschen betroffen. Ganz besonders für Schwangere gelte beim Alkohol: "Es gibt
keine unbedenkliche Menge."

Es geht um Milliarden

Pro Jahr verursache Alkoholkonsum einen volkswirtschaftlichen Schaden von
rund 57 Milliarden Euro, den die Gesellschaft trage, hieß es auch. Darunter
fallen demnach gut 40 Milliarden direkte Ausgaben für Krankenhaus, Pflege oder
Reha oder auch etwa indirekte Kosten von mehr als 16 Milliarden Euro wegen
Arbeitslosigkeit oder Produktionsausfällen. Der Konsum von Alkohol werde viel zu
selten kritisch hinterfragt, gelte noch immer als "völlig normal", kritisierte
der Bundesdrogenbeauftragte Blienert (SPD). Aber: "Jeder Schluck ist
gesundheitsschädlich und das müssen wir auch so benennen", forderte er in einer
Mitteilung.

"Gesundheitspolitik und Gesundheitssystem sowie relevante gesellschaftliche
Akteure müssen mehr tun, um den Alkoholkonsum insgesamt und die mit ihm
verbundenen Folgen für Konsumierende, das soziale Umfeld und die Gesellschaft zu
verringern", hieß es in dem Positionspapier. "Die Ausdünnung der
Verkaufsstellendichte, auch im Sinne der Einführung von lizenzierten Geschäften,
ist eine sinnvolle Maßnahme." Und: "Die Bundesregierung ist aufgefordert, ein
vollständiges Werbeverbot für Alkohol umzusetzen."/wa/DP/zb
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