08.07.2024 05:55:14 - dpa-AFX: ROUNDUP/Politisches Beben in Paris: Linke vorn, Premier tritt zurück

PARIS (dpa-AFX) - Am Tag nach dem unerwarteten Ergebnis bei der
Parlamentswahl muss Frankreich sich neu sortieren. Der Rechtsruck fällt
schwächer aus als angenommen - in der neu gewählten Nationalversammlung wird
voraussichtlich ein Linksbündnis stärkste Kraft. Premierminister Gabriel Attal
zog erste Konsequenzen und kündigte seinen Rücktritt an. Eine regierungsfähige
Mehrheit ist aber noch nicht in Sicht, zudem fehlt es den Linken an einer
gemeinsamen Führung. Ungewiss ist auch, was das Ergebnis für Deutschland und
Europa heißt.

Die Nouveau Front Populaire aus Linken, Kommunisten, Sozialisten und Grünen
könnte nach Angaben der Institute Ipsos und Ifop auf 177 bis 192 der 577 Sitze
kommen - und sorgte damit für eine große Überraschung.

Das Mitte-Lager von Staatspräsident Emmanuel Macron und Attal hingegen sackt demnach von zuvor 250 auf nun 152 bis 169 Mandate ab. Das Rassemblement National
(RN) um Marine Le Pen und seine Verbündeten wachsen von zuletzt 88 auf 138 bis
145 Sitze - und dürfte somit nur auf dem dritten Platz landen. Die absolute
Mehrheit von 289 Sitzen dürfte aber keine der Gruppierungen erreichen.

Siegesfeiern und Ausschreitungen

In Städten im ganzen Land kam es in der Nacht bei Kundgebungen zu
Ausschreitungen. In Paris versammelten sich Tausende Menschen auf der Place de
la République im Zentrum der Hauptstadt, um den Sieg des Linksbündnisses zu
feiern. Dabei geriet ein Teil der Demonstranten nach Medienberichten mit
Ordnungskräften aneinander, die daraufhin Tränengas einsetzen. Barrikaden aus
Holz wurden in Brand gesetzt. Auch in Lille, Rennes und Nantes kam es zu
Auseinandersetzungen.

Linke sieht Regierungsverantwortung - trotz tiefer Gräben

Frankreichs gespaltene Linke hatte sich erst vor wenigen Wochen für die Wahl zum Nouveau Front Populaire zusammengeschlossen. Bei der Europawahl Anfang Juni
waren die Parteien noch einzeln angetreten. Streit gibt es innerhalb der Linken
vor allem über die altlinke Führungsikone Jean-Luc Mélenchon. Der Populist, der
mit euroskeptischen Aussagen auffällt und einen klar propalästinensischen Kurs
fährt, wird selbst in seiner Partei heftig kritisiert.

Eine klare Führung hat das Bündnis aus Linken, Kommunisten, Sozialisten und
Grünen nicht. Auch ein gemeinsames Programm gibt es nicht.

Einen Regierungsanspruch meldeten die Linken nach ihrem Überraschungssieg
dennoch an. "Wir haben gewonnen und jetzt werden wir regieren", sagte
Grünen-Generalsekretärin Marine Tondelier. Auch der Gründer der französischen
Linkspartei Mélenchon verlangte von Macron, das Linksbündnis zum Regieren
aufzufordern.

Le Pen schaut nach vorne

Eigentlich war mit einem haushohen Sieg des rechtsnationalen Rassemblement
National (RN) von Marine Le Pen gerechnet worden. Nach der ersten Wahlrunde vor
einer Woche sahen Prognosen das RN noch knapp unter der absoluten Mehrheit und
damit möglicherweise in der Lage, die nächste Regierung zu stellen. Eine
Regierung der Rechtsnationalen - wohl das Schreckszenario für Deutschland und
die EU - scheint vorerst abgewendet. Deutlich zugelegt hat das RN dennoch.

Le Pen gab sich nach den ersten Hochrechnungen gelassen: "Die Flut steigt
weiter und unser Sieg ist heute nur aufgeschoben." Auch RN-Chef Jordan Bardella
sagte, seine Partei sei die einzige Alternative zur angeblichen "Einheitspartei"
des linken Lagers und der Mitte-Kräfte.

Linke und Macrons Mitte-Kräfte hatten vor der zweiten Wahlrunde eine
Zweckallianz gebildet. Um sich in Wahlkreisen, in denen drei Kandidaten in die
zweite Runde kamen, nicht gegenseitig Stimmen wegzunehmen und dem RN so lokal
zum Sieg zu verhelfen, zogen sich etliche Kandidaten der Linken und der
Liberalen zurück. Ihre Wählerschaft riefen sie dazu auf, in jedem Fall gegen das
RN zu stimmen.

Große Koalition oder Minderheitsregierung?

Wie es weitergeht, ist vorerst unklar. Ob die Linken alleine eine
Minderheitsregierung auf die Beine stellen können, ist ungewiss. Die anderen
Fraktionen könnten eine solche Regierung per Misstrauensvotum stürzen.

Die Linken könnten auch versuchen, von den Mitte-Kräften Unterstützung zu
bekommen - entweder als eine Minderheitsregierung mit Duldung oder in einer Art
Großen Koalition. Angesichts der gegensätzlichen politischen Ausrichtungen ist
allerdings nicht abzusehen, ob dies gelingen könnte. Der Chef der Sozialisten,
Olivier Faure, erklärte zudem bereits, es solle keine "Koalition der Gegensätze"
geben.

Unklar ist, ob Staatschef Macron Attals Rücktritt annehmen und einen Linken
zum Premier ernennen wird. In einer solchen Konstellation würde Macron an Macht
einbüßen, der Premier, der die Regierungsgeschäfte leitet, würde wichtiger.

Was dies für Deutschland und Europa hieße, hinge wohl stark davon ab, wer
auf den Posten käme. Das Linksbündnis vertritt bei vielen großen politischen
Themen sehr unterschiedliche Positionen.

Ungewisse Zukunft

Sollte keines der Lager eine Regierungsmehrheit finden, könnte die aktuelle
Regierung übergangsweise die Amtsgeschäfte führen oder eine Expertenregierung
eingesetzt werden. Frankreich droht in einem solchen Szenario politischer
Stillstand. Eine erneute Auflösung des Parlaments durch Macron und eine Neuwahl
sind erst im Juli 2025 wieder möglich./rew/DP/zb

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