17.06.2024 17:47:14 - dpa-AFX: ROUNDUP/Bildungssystem am Limit: Mehr Schulabbrecher und Fachkräftemangel

BERLIN (dpa-AFX) - Von der Kita bis zur Uni - das deutsche Bildungssystem
"arbeitet am Anschlag": Dieses alarmierende Fazit zog ein Team aus
Bildungswissenschaftlern, Jugendforschern und Statistikern am Montag bei der
Vorlage des alle zwei Jahre erscheinenden Nationalen Bildungsberichts. Der
mehrere hundert Seiten umfassende Bericht beschreibt den Zustand des
Bildungssystems und die Probleme, vor denen Bildungseinrichtungen stehen. Er
soll Handlungsgrundlage für die Bildungspolitik sein.

Das Bildungssystem wurde demnach in den vergangenen Jahren immer mehr
ausgebaut, zum Beispiel im Bereich Kita. Es gab deutliche Personalzuwächse und
mehr Geld - doch mit den wachsenden Anforderungen hält das nicht Schritt.
Anhaltend viele junge Menschen verlassen die Schule ohne Abschluss. Die in
Berlin präsentierten Ergebnisse im Einzelnen:

SCHULABBRECHER - 2022 verließen 52 300 Jugendliche die Schule ohne
Abschluss. Der Anteil der Gleichaltrigen, die keinen Schulabschluss schafften,
stieg demnach auf 6,9 Prozent. Im Vorjahr lag er nach Daten des Statistischen
Bundesamtes bei 6,2 Prozent (47 500) und 2020 dem Bildungsbericht zufolge bei
5,9 Prozent. Die Zahl der eigentlichen Abbrecher dürfte noch höher liegen, da
Jugendliche, die während eines Schuljahrs die Schule verlassen, nicht mitgezählt
werden. Im Zeitverlauf wird deutlich, dass es sich um ein dauerhaftes Problem
handelt: So lag der Anteil der Jugendlichen ohne Abschluss im Jahr 2006 bei 8
Prozent (mehr als 75 000 Betroffene) ging dann bis 2013 auf 5,7 Prozent zurück
und steigt seitdem - mit Unterbrechung der Corona-Jahre - wieder an.

SYSTEM WÄCHST - Die Bildungsausgaben im Land sind in den vergangenen zehn
Jahren um 46 Prozent auf 264 Milliarden Euro im Jahr 2022 gestiegen. Ein
deutliches Plus. Im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt, sei der Anteil der
Bildungsausgaben seit 2012 aber nur um 0,2 Prozentpunkte gestiegen, heißt es
kritisch - zumal auch der finanzielle Bedarf steigt, denn die Zahl der
Bildungseinrichtungen ist gewachsen, die Zahl der Beschäftigten und auch die der
Bildungsteilnehmer. Knapp 18 Millionen Menschen waren 2022 in einer
Bildungseinrichtung, gut eine Million mehr als vor zehn Jahren.

PERSONALMANGEL - Die zum Teil sehr angespannte Situation bei der
Rekrutierung von Fachpersonal bleibe eine Herausforderung für nahezu alle
Bildungsbereiche, heißt es im Bericht. In den Schulen zeigt sich das den Autoren
zufolge zum Beispiel daran, dass verstärkt auf Quereinsteiger gesetzt wird.
Demnach hatten von 35 000 im vergangenen Jahr neu eingestellten Lehrkräften
zwölf Prozent keine klassische Lehramtsausbildung. Der Bericht zählte für das
Jahr 2022 insgesamt 2,7 Millionen Menschen, die in Kitas, Schulen und
Hochschulen beschäftigt waren. Die Forscher gehen davon aus, dass die
Bevölkerungszahl durch Zuwanderung weiter wächst, was "mittelfristig in
sämtlichen Bildungsbereichen" zu einer erhöhten Nachfrage nach Bildung führen
werde - entsprechend wird auch mehr Personal gebraucht.

KITAS - Die Zahl der Kitas ist in den vergangenen zwei Jahrzehnten deutlich
gewachsen. 2023 gab es mehr als 56 000 Einrichtungen im Land, ein Höchststand -
10 000 Kitas mehr als noch 2006. Innerhalb der vergangenen zehn Jahre stieg die
Zahl der pädagogischen Kita-Fachkräfte dem Bericht zufolge von 458 000 auf mehr
als 700 000. Im Osten könne der Personalbedarf weitgehend gedeckt werden, im
Westen knirsche es aber noch immer, hieß es. Trotz gestiegener Zahl an
Kita-Plätzen, bestehe die Lücke zwischen Angebot und Nachfrage weiter, da der
Bedarf an Betreuungsplätzen Umfragen zufolge mitwachse.

HOCHSCHULEN - Die "Akademisierung stagniert", heißt es im Bericht. Der über
viele Jahrzehnte zu beobachtende Akademisierungsprozess - also dass immer mehr
junge Menschen studieren - sei vorerst zum Stillstand gekommen. Die Nachfrage
nach Hochschulbildung stagniere seit einiger Zeit. Es gebe sogar Anzeichen für
ein Nachlassen, obwohl die Nachfrage zum Beispiel nach Naturwissenschaftlern,
Informatikern und Ingenieuren schon jetzt nicht mehr ganz gedeckt werden könne.

SOZIALE HERKUNFT - Bildungserfolg hängt in Deutschland stark von der
sozialen Herkunft ab, soweit so bekannt. In ihrem Bericht verweisen die Forscher
hier auch auf einzelne Aspekte im Zusammenhang mit Zuwanderung. Je älter
Menschen sind, wenn sie nach Deutschland kommen, desto schlechter sind ihre
Chancen auf Bildungserfolg. Rund die Hälfte jener, die im Alter von 14 bis 18
Jahren nach Deutschland gezogen sind, hat weder einen Berufsabschluss noch die
Hochschulreife. Bei jenen, die als Kleinkinder zugezogen sind, ist nur ein
Viertel gering qualifiziert.

Mit Blick auf Unterschiede im Bildungserfolg und schlechte Mathe- und
Deutschleistungen empfehlen die Bildungsforscher mehr Bemühungen und eine
stärkere Förderung schon im Vorschulalter, denn Unterschiede entstünden nicht
erst in der Schule, wo sie später etwa bei Pisa oder anderen Vergleichstests
festgestellt werden, sondern deutlich früher. Vor diesem Hintergrund wird in dem
Bericht eine Uneinheitlichkeit in den Ländern bei Sprachstand-Tests im
Vorschulalter kritisiert: Während in sieben Ländern alle Kinder vor der
Einschulung mit unterschiedlichen Erhebungsverfahren getestet würden, führten
weitere sieben Länder solche Erhebungen nur bei bestimmten Gruppen durch, und in
zwei Ländern werde keine landesweite Diagnostik vorgenommen./jr/DP/ngu

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