18.06.2024 13:59:13 - dpa-AFX: ROUNDUP 3/Nervenkrimi um EU-Spitzenposten: Von der Leyen muss warten

(neu: mehr Details und Hintergrund)

BRÜSSEL (dpa-AFX) - Die Verhandlungen über die Neubesetzung der
EU-Spitzenpositionen nach der Europawahl werden wider Erwarten doch noch zum
Nervenkrimi. Nach Angaben aus Verhandlungskreisen sind sich die drei großen
europäischen Parteienfamilien nach dem EU-Gipfel am Montagabend zwar einig
darüber, dass die deutsche CDU-Politikerin Ursula von der Leyen weitere fünf
Jahre Präsidentin der mächtigen und für EU-Gesetzgebungsvorschläge zuständigen
EU-Kommission bleiben soll. Streit gibt es allerdings darüber, wie lange die
Position des EU-Ratspräsidenten dem früheren portugiesischen Regierungschef
António Costa zugesagt werden soll.

Das Mitte-Rechts-Bündnis EVP will ihre Unterstützung für den
Sozialdemokarten Costa nach Angaben von Diplomaten nur für zweieinhalb Jahre
versprechen. Das Bündnis begründet dies damit, dass es bei der Europawahl mit
Abstand stärkste politische Kraft geworden ist und zumindest die Möglichkeit
bekommen sollte, den Ratschef-Posten in der zweiten Hälfte der neuen
Legislaturperiode zu besetzen. Aus der EVP, zu der auch die deutschen Parteien
CDU und CSU zählen, wird dem kroatischen Ministerpräsidenten Andrej Plenkovi?
ein sehr großes Interesse an der Spitzenposition nachgesagt.

Im Gegensatz zum EU-Kommissionspräsidenten wird der EU-Ratspräsident
offiziell nur für zweieinhalb Jahre gewählt. Nur eine informelle Absprache
könnte Costa den Job für fünf Jahre sichern. Die Position des EU-Ratspräsidenten
ist wichtig, weil dieser die auch als EU-Gipfel bezeichneten Europäischen Räte
mit den Staats- und Regierungschefs vorbereitet und leitet. Zudem darf der
Ratschef wie der Kommissionschef bei großen internationalen Gipfeltreffen wie G7
oder G20 die EU vertreten.

Namen gelten als fix

Der Streit über die Länge der Amtszeit verhinderte nach Angaben von
Verhandlungsteilnehmern maßgeblich, dass die Staats- und Regierungschefs der
EU-Länder in der Nacht zum Dienstag ein Gipfeltreffen zum neuen Personalpaket
ohne finale Einigung beendeten. Das Paket sieht auch vor, dass die liberale
estnische Regierungschefin Kaja Kallas den Spanier Josep Borrell als
EU-Chefdiplomaten ablöst. Zudem dürfte abgesprochen werden, dass die aus Malta
stammende Mitte-Rechts-Politikerin Roberta Metsola zumindest die nächsten
zweieinhalb Jahre Präsidentin des Europäischen Parlaments bleibt.

Kompromiss noch vor Monatsende?

Ein Kompromiss soll nun spätestens Ende kommender Woche beim regulären
Juni-Gipfel erzielt werden. Bis dahin werden weitere Gespräche der
Chefunterhändler der drei großen Parteienfamilien erwartet. Dies sind für die
Sozialdemokraten Bundeskanzler Olaf Scholz und der spanische Ministerpräsident
Pedro Sánchez, für die Liberalen Frankreichs Präsidenten Emmanuel Macron und der
niederländische Ministerpräsident Mark Rutte sowie für die EVP der polnische
Ministerpräsident Donald Tusk und der griechische Regierungschef Kyriakos
Mitsotakis.

Scholz hatte sich vor dem Gipfel noch optimistisch geäußert, dass es eine
schnelle Einigung geben kann. Er sagte, die Europawahl habe eine "stabile
Mehrheit" für das Mitte-Rechts-Bündnis EVP, die Sozialdemokraten und die
Liberalen gebracht. Deshalb sei er sich ganz sicher, dass man in kürzester Zeit
zwischen den politischen Familien und Ländern eine Verständigung erzielen könne.
"Das wäre auch wichtig, (...) weil wir leben in Zeiten, die schwierig sind. Und
da ist es wichtig zu wissen, wie es weitergeht mit Europa", ergänzte der
SPD-Politiker.

Rechte Parteien im Aufwind

Druck auf alle drei Parteien gibt es insbesondere wegen des guten
Abschneidens rechter Parteien bei der Europawahl. Damit von der Leyen ohne deren
Unterstützung im Europäischen Parlament zur Präsidentin der EU-Kommission
gewählt werden kann, braucht es eine Einigung von EVP, Sozialdemokraten und
Liberalen. Zusammen haben die Parteienfamilien etwa 400 der 720 Sitze im
Parlament. Kanzler Scholz sagte beim Gipfel ohne Namen zu nennen: "Ganz klar
ist: Im Parlament darf es keine Unterstützung der Kommissionspräsidentschaft
geben, die sich auf rechte und rechtspopulistische Parteien stützt."

Diese Kommentare können von der EVP auch als Warnung verstanden werden, eine mögliche Zusammenarbeit mit der Partei Fratelli d'Italia (Brüder Italiens) der
rechten italienischen Ministerpräsidentin Giorgia Meloni auszuloten. Von der
Leyen hat eine lose Kooperation mit Meloni bislang nicht ausgeschlossen.

Orban sieht Wählerwillen ignoriert

Kritik an den Verhandlungen zwischen den drei großen Parteienfamilien kam in der Nacht zu Dienstag vom ungarischen Regierungschefs Viktor Orban, der 2021 mit
seiner Partei nach einem Streit um die Rechtsstaatlichkeit in seinem Land aus
der EVP ausgetreten war und seitdem keiner Parteienfamilie mehr angehört. Der
Ungar schrieb nach dem Gipfeltreffen, bei der Europawahl seien rechte Parteien
stärker geworden, Linke und Liberale hätten an Boden verloren - dennoch habe
sich die EVP nun mit den Sozialisten und Liberalen zusammengetan. "Heute haben
sie einen Deal geschlossen und die Spitzenjobs der EU unter sich aufgeteilt. Sie
scheren sich nicht um die Realität", schrieb Orban. "Der Wille des europäischen
Volkes wurde heute in Brüssel ignoriert."

Orban traf sich am Rande des Gipfels sowohl mit Meloni, als auch mit dem
früheren polnischen Regierungschef Mateusz Morawiecki. Thema soll unter anderem
die Frage eines möglichen Zusammenschlusses der europäischen Rechten im
Europaparlament gewesen. Vor allem, wenn daran auch die französische Partei
Rassemblement National um Marine Le Pen beteiligt werden würde, könnte die
zweitstärkste Fraktion im Parlament entstehen./aha/DP/jha

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