14.06.2024 13:11:01 - dpa-AFX: HINTERGRUND 2: Zukunftstraum Deutschland - Warum junge Türken ihr Land verlassen

(neu: Zahlen zu im Jahr 2023 vergebene Visa)

ISTANBUL (dpa-AFX) - Mustafa Aydin hat es eilig. Der Istanbuler Musiker
hetzt von Wohnungsbesichtigung zu Wohnungsbesichtigung in Berlin, dem Ort, an
den er sich lange gesehnt hat. Nun ist er da, nach langen Visastrapazen. Hier in
der deutschen Hauptstadt will sich der Live-Techno-Performer ein neues Leben
aufbauen und ist einer von tausenden jungen Türken, die ihr Land hinter sich
lassen wollen.

Laut einer Umfrage des Instituts Habitat von 2023 möchte fast die Hälfte der Türkinnen und Türken zwischen 18 und 29 Jahren ins Ausland umziehen, die meisten
nach Deutschland. 2019 waren es jeder Vierte. In keinem anderen Land
bearbeiteten deutsche Auslandsvertretungen 2023 so viele Visaanträge wie in der
Türkei, hieß es aus dem Auswärtigen Amt (AA). Die genau Zahl der Anträge
veröffentlicht das Ministerium nicht, sondern nur die erteilten Visa. Das waren
vergangenes Jahr mehr als 46 000 nationale und knapp 200 000 Schengenvisa. Im
Gegensatz zu Schengenvisa, die auf 90 Tage begrenzt sind, werden nationale Visa
für längerfristige Aufenthalte ausgestellt. Laut AA wurden zudem 17 000 Visa an
Betroffene der Erdbeben am 6. Februar erteilt.

Dennoch: Im Zeitraum 2018 bis 2023 wurden nur für Menschen aus China mehr
Visa erteilt, dem bevölkerungsreichsten Land der Erde. Allein in den ersten fünf
Monaten dieses Jahres hat Deutschland fast 16 000 nationale Visa für türkische
Antragsteller ausgestellt. 2019 waren es im gleichen Zeitraum weniger als die
Hälfte.

Habitat fragte auch nach den größten Sorgen der jungen Befragten. Am
häufigsten wurden die Inflation im Land genannt. Im Mai lag sie bei 75 Prozent.

Zermürbende Wirtschaftslage

"Mich haben die sich rasch ändernden wirtschaftlichen Bedingungen in der
Türkei sehr zermürbt. Die steigenden Preise für Miete, Atelier und Materialien
haben mein Schaffen erheblich beeinträchtigt", sagt auch Ece Agirtmis. Die
Künstlerin entwirft Holzskulpturen, die an Spielzeuge, Cartoons und Animationen
erinnern, und lebt seit Anfang dieses Jahres in Berlin. Vorher hat sie lange mit
dem Gedanken gespielt, ins Ausland zu gehen, zunächst aus Neugier. "Ich wollte
mehr Künstler treffen und die Kunstszene in Europa aus nächster Nähe sehen."
Nach dem Erdbeben am 6. Februar 2023, bei dem allein in der Türkei 50 000
Menschen zu Tode kamen und in ihr große Trauer ausgelöst habe, fasste die
29-Jährige endgültig den Entschluss, das Land zu verlassen.

Für Mustafa Aydin war es besonders der zunehmende politische Druck auf die
kulturelle Szene in Istanbul, der ihn zum Umzug bewegt hat. "In Istanbul Musik
zu machen, wurde immer schwieriger." Mustafa ist Teil des Live-Techno-Duos
Hiccup, und damit in Istanbul ziemlich einzigartig. "Ich wollte nach Berlin,
weil es die Heimat unserer Musik ist." Auch in Istanbul gibt es eine lebendige
Untergrundkultur, "die bekommt aber keine Unterstützung, schon gar nicht vom
Staat", sagt der studierte Tonmeister. "Was man verdient, ist offen gesagt ein
Witz." Um die wenigen vorhandenen Ressourcen gebe es einen großen Kampf. Die
AKP-Regierung unter Präsident Recep Tayyip Erdogan steht für eine rigorose
islamisch-konservative Kulturpolitik.

Der Brain-Drain - ein Unglück

Der Brain-Drain, den die Türkei erlebe, sei ein "außerordentliches Unglück"
für das Land, sagt Migrationsforscher Murat Erdogan. Hauptgründe für den Weg ins
Ausland sei die Wirtschaft, aber auch die menschenrechtliche Situation im Land
und die korrumpierte Rechtsstaatlichkeit: Begonnen habe die Entwicklung mit den
regierungskritischen Gezi-Protesten 2013, der gewaltvollen Reaktion des Staates
darauf und dem Putschversuch 2016. Sie gelten allgemein als zentrale Ereignisse
auf dem Weg zu einem autoritäreren türkischen Staat.

Bei Ärzten etwa macht sich das bemerkbar. Jeder Mediziner, der den Plan
hegt, das Land zu verlassen, muss sich ein Dokument von der türkischen
Ärztekammer TBB ausstellen lassen. Die Antragszahlen dazu sind laut der Kammer
enorm gestiegen. 2019 wurden gut 1000 dieser Dokumente beantragt, 2023 waren es
dreimal so viele.

"Das Rechtssystem ist kaputt", sagt auch die türkische Rechtsanwältin Güngör Baykan aus Ankara. Auch sie will nach Deutschland und lernt darum seit Oktober
am Goethe-Institut die Sprache. Aus dem Institut heißt es, die Nachfrage nach
Kursen steige ständig. Die Mutter der 32-jährigen Güngör ist Deutsche und lebt
in Mülheim an der Ruhr, Güngör hat sie bereits viele Male besucht und zum
Studium fünf Jahre in den Niederlanden gelebt. "Ich kenne die Lebensbedingungen
in Deutschland und denke, dass es besser zu meinem Lebensentwurf passt." In der
Türkei spüre sie einen starken religiösen Druck, vor allem auf sich als Frau.
Güngör wartet seit Oktober 2023 auf einen Termin zur Visabeantragung.

Lange Visa-Wartezeiten - ein Kalkül?

In der Türkei hört man immer wieder den Vorwurf, Visa-Anträge würden
grundlos abgelehnt, oder dass die langen Wartezeiten Kalkül seien. Aus deutschen
Diplomatenkreisen in der Türkei hieß es, es gebe Probleme mit langen
Wartezeiten. Hintergrund seien Rückstaus durch die Coronapandemie und personelle
Engpässe in den Visastellen.

Einen noch größeren Anstieg als bei den Anträgen auf nationale Visa gibt es
aber bei den Asylanträgen von türkischen Staatsbürgern, die in den vergangenen
Jahren regelrecht explodiert sind: 2019 bewarben sich laut der Bundesregierung
etwa 11 000 Menschen mit türkischem Pass auf Asyl in Deutschland. 2023 waren es
rund 62 000 - das ist eine Steigerung um rund 400 Prozent. Nur von Syrern wurden
2023 mehr Anträge gestellt. Die meisten der Antragsteller aus der Türkei sind
laut Pro Asyl Kurden. Vor allem die prokurdische Partei Dem und ihre Mitglieder
sind in der Türkei großem Druck ausgesetzt. Viele ihrer auf Bürgermeisterämter
gewählten Vertreter wurden etwa in den vergangenen Jahren durch regierungsnahe
Vertreter ersetzt. Die große Mehrheit der Anträge wird jedoch abgelehnt, 2023
wurde nur in 13 Prozent der Fälle eine positive Asylentscheidung getroffen

Vor 20 Jahren sei die Situation noch eine ganz andere gewesen, sagt
Migrationsforscher Murat Erdogan. Die AKP galt als Hoffnungsträger für eine
Liberalisierung des Landes. "Damals zogen noch Türken aus Europa zurück in die
Türkei". Musiker Mustafa will das auch für seine Zukunft nicht
ausschließen./apo/DP/ngu

--- von Anne Pollmann, dpa ---

© 2000-2024 DZ BANK AG. Bitte beachten Sie die Nutzungsbedingungen | Impressum
2024 Infront Financial Technology GmbH