20.06.2024 06:56:17 - dpa-AFX: POLITIK: Konservative vor Wahlpleite: Selbst in Sunaks Hinterhof wird es eng

RICHMOND/NORTHALLERTON (dpa-AFX) - Zu den Grundsätzen der britischen Politik
gehört: Ein amtierender Premierminister verliert seinen Wahlkreis nicht. Nur
kann man in Großbritannien zwei Wochen vor der Parlamentswahl gar nichts mehr
ausschließen. Nun gibt es tatsächlich eine Umfrage, die genau das besagt:
Regierungschef Rishi Sunak verliert seinen Wahlkreis - und damit seinen Sitz im
Parlament in London. Als erster Premierminister der Geschichte.

Sein Wahlkreis ist Richmond and Northallerton: Viel konservativer als hier
im englischen Norden, rund 340 Kilometer von London und bekannt für den
Yorkshire-Tee, geht es eigentlich nicht mehr. In Umfragen liegt Sunaks
Konservative Partei landesweit konstant rund 20 Punkte hinter der
sozialdemokratischen Labour-Partei. Viele Tories müssen um ihre Mandate
fürchten. Aber nicht der Kandidat in Richmond. Eigentlich.

Landschaft aus dem Bilderbuch

Schmale Straßen winden sich hier an hohen Hecken entlang durch die Felder,
auf denen Kühe und Schafe weiden. Bei Gegenverkehr wird es eng. Ein
Bilderbuch-England.

An einem dieser Wege liegt auch Rishi Sunaks Anwesen. Der Premier stammt aus Southampton am Ärmelkanal, er hat das Herrenhaus im Weiler Kirby Sigston
erworben, als er 2015 erstmals hier kandidierte. Neugierig tapst ein Fasan aus
einer Hecke, sonst gibt es für die Besatzung des Polizeiwagens, der in einer
Feldeinfahrt parkt, nichts zu sehen.

Sunak hat damals übernommen, was in Großbritannien "safe seat" genannt wird: ein sicherer Sitz im Parlament. Die Zusammensetzung des Wahlkreises, der zuletzt
nur Richmond hieß, ist zwar leicht verändert. Doch das dürfte normalerweise
nichts an der Dominanz ändern. Die Konservativen halten das Mandat seit mehr als
100 Jahren, 2019 holte Sunak hier 37 000 Stimmen - ein Vorsprung von 27 000. Nur
die Siegerin oder der Sieger eines Wahlkreises erhält das Mandat.

Sunak wird durchaus geschätzt

Und jetzt droht dem 44-Jährigen womöglich eine historische Pleite. Wer sich
in den Örtchen Northallerton und Richmond umhört, bekommt den Eindruck, dass die
Menschen hier Sunak durchaus schätzen. Ja, der Premier habe ein paar Fehler
gemacht, sagt der 77-jährige Stanley, der sich auf dem Marktplatz von Richmond
auf einer Bank ausruht. Aber er werde ihm nochmal das Vertrauen schenken, Sunak
habe gute Ideen.

Andere sind kritischer. Angela sitzt mit einer Freundin in einem Café in
Northallerton. Sie findet Sunak sympathisch. Aber sie findet schlecht, dass er
die Einkommensteuer nicht senkt. Außerdem hätten die Tories mit ihren Skandalen
der vergangenen Jahre zu viel Porzellan zerschlagen. Sie werde Sunak nicht
wählen - und auch keinen anderen. Wie die Mittfünfzigerin Angela sind viele
Menschen der Politik müde. Falls am Wahltag viele zu Hause bleiben, dürfte das
am ehesten die Tories treffen. Von Aufregung vor der Abstimmung ist nichts zu
spüren, Wahlplakate sind nicht zu sehen.

Profitieren von einer historischen Tory-Pleite würde Tom Wilson. Der junge
Mann kandidiert für die Labour-Partei und dürfte selbst nicht mit mehr als einem
Achtungserfolg gerechnet haben. Darüber würde man gerne mit ihm sprechen, doch
zu erreichen ist der 29-Jährige nicht.

"Ich hätte Sie für verrückt erklärt."

Im Interview mit der Zeitung "Times" zwingt sich Wilson merklich zur
Zurückhaltung. "Es wäre ziemlich monumental. Ich muss aufhören, mit offenen
Augen zu träumen", sagt er. "Hätten Sie mich vor einem Jahr gefragt, ob ich hier
gewinnen kann, hätte ich Sie für verrückt erklärt." Vor sechs Monaten sei er
noch sehr, sehr skeptisch gewesen. "Aber jetzt? Wer weiß." Bei X ruft Wilson
dazu auf, taktisch zu wählen. Von den Oppositionsparteien habe Labour die besten
Chancen, den Wahlkreis zu gewinnen.

Sunak aber könnte ungewollte Unterstützung erhalten. In Richmond and
Northallerton tritt mit Count Binface (auf Deutsch etwa: Graf Mülltonnengesicht)
ein Satire-Kandidat an. In dem Kostüm mit Umhang und einer Mülltonne als Helm,
das vage an Star-Wars-Bösewicht Darth Vader erinnert, steckt der Komiker Jon
Harvey. Der selbst ernannte intergalaktische Weltraumkrieger hat Sunak und die
Tories wiederholt lächerlich gemacht. Doch Stimmen für den Satiriker könnten am
Ende genau die sein, die dem Labour-Herausforderer fehlen./bvi/DP/stk

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